Die Rache der Jagerin
alten Ufer erwähnt.«
Diese Gegend kannte ich. Zwanzig Straßen nördlich vom St.-Eustachius-Krankenhaus erstreckte sich ein Viertel über mehrere Blocks: Leerstehende Geschäfte und Wohnhäuser säumten dort das Westufer des Anjean River. Ziegelgebäude in Gründerzeitarchitektur und zwei alte Theatergebäude, die nach einer Flutkatastrophe vor fünfzig Jahren geschlossen worden waren, zeugten vom einstigen Prunk von Mercy’s Lot. Heutzutage wusste jedoch niemand etwas mit den Grundstücken anzufangen. Darum war es der geeignete Ort für Halbvamps und andere zwielichtige Gestalten, die nicht wollten, dass man die Nase in ihre Angelegenheiten steckte.
»Was ist damit?«, fragte ich.
Tattoo biss sich auf die Unterlippe, bis es blutete. Er sah erbärmlich aus, und sein Kinn zuckte. »Er meinte, jeder, der was aus sich machen will, sollte Samstag um Mitternacht zu einem Treffen dort kommen. Das Ganze sei offen für alle Nichtmenschen, die mit den Triaden noch ein Hühnchen zu rupfen haben.«
Bingo! Wir hatten den Hauptgewinn gezogen. Park Place, morgen um Mitternacht. »Und wo genau?«
»In dem Haus Ecke Park und Howard Street.«
»Wer organisiert das Ganze?«, erkundigte ich mich.
»Keine Ahnung.«
Ohne dass ich ihn darum bitten musste, ließ Phin den rechten Flügel sinken. Tattoo kreischte und zappelte wie ein Fisch am Haken. Wohin er jedoch auch immer auswich: Er fand nicht genug Schatten, um weitere Verbrennungen zweiten Grades zu vermeiden. Schnell wurden daraus Verbrennungen dritten Grades, und an Schenkeln und Knien versengte die Sonne bereits das nackte Fleisch. Der stechende Geruch von Gebratenem kitzelte mich in der Nase.
»Ich weiß es nicht!«, schrie Tattoo und winselte das letzte Wort dabei. »Hört auf! Ich weiß nichts.«
Ich drehte den Kopf zu Phin. Er betrachtete Tattoo wie ein Wissenschaftler, der den Verlauf eines Experiments beobachtete. »Glaubst du ihm?«, fragte ich.
»Er muss keinen Verbündeten beschützen«, erwiderte Phin. »Wenn er nicht von jemandem angeheuert worden ist, hat er keinen Grund, für irgendjemanden zu lügen.«
»Das tue ich nicht«, schluchzte Tattoo. »Ich schwöre es, niemand hat mich angeheuert. Gib mir Schatten.«
»Ich glaube ihm auch, denke ich«, sagte ich. »Gute Nacht, John Boy.«
Ich drückte ihm den Klebestreifen wieder auf den Mund. Phin legte die Flügel an und trat drei Schritte zurück. Nachdem ich mich erhoben hatte, folgte ich seinem Beispiel, um Tattoo genug Raum zum Zappeln zu geben. Sein Leib krümmte sich und zuckte, und durch den Knebel drang ersticktes Kreischen. Unter den gleißenden Sonnenstrahlen färbte sich seine Haut erst rot, dann wurde sie allmählich schwarz.
Ich hielt mir Mund und Nase zu und sah ohne jede Genugtuung zu, wie ein weiteres, vom Vampirvirus infiziertes Leben sein feuriges Ende nahm. Seine Haare brachen in Flammen aus und verwandelten sich in eine schwarzgraue Masse. Gleichzeitig löste sich das schwarze Fleisch in qualmenden Streifen von seinem Körper und legte die Muskeln frei. Tattoos dumpfe Schreie schienen nicht abzubrechen – selbst dann nicht, als er sich schon nicht mehr rührte.
Doch über dem Lärm der Stadt und diesen Straßen voller einsamer, verlorener Seelen war der Tod nicht zu hören.
Als wir wieder nach unten kamen, befand sich die Hälfte unserer Opfer der vorherigen Schlägerei bereits auf der Expressroute zum Komposthaufen. Die anderen wurden wir schnell los. Da ich keine Antigerinnungskugeln dabeihatte, brach ich ihnen mit einer Zehn-Kilo-Hantel das Genick.
Obwohl mir ein halbes Dutzend Fragen unter den Nägeln brannten – die meisten davon bezogen sich auf Phineas –, sprachen wir kein Wort. Noch immer wusste ich nicht viel über diese Halbverwandlung in ein Tier. Und die Verbissenheit, die er bei Tattoos Befragung gezeigt hatte, stachelte meine Neugier nur weiter an.
Tattoo hatte gefragt, ob Phin ein Engel wäre. Genau dieselbe Frage lag mir auf der Zunge.
Eigentlich hatte ich vor, das Gebäude zu durchsuchen, wenn ich schon einmal hier war. Ich wollte sicherstellen, dass die Halbvamps sich nicht erneut hier trafen, um Jagd auf Beute in verschwitzten Klamotten und mit schweren Sporttaschen zu machen. Doch als Phin sich abrupt dem Flur zuwandte, überlegte ich es mir anders. Ich folgte ihm, wobei ich die schöne Form seiner Flügel bewunderte und die Art, wie er sie angelegt hatte. Denn diesmal hatte er sie nicht verschwinden lassen.
Mir fiel außerdem auf, dass er humpelte.
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