Die Rache der Jagerin
Entweder hatte ich das bisher nur nicht wahrgenommen, oder er tat es erst seit zehn Sekunden. Er entlastete das linke Bein, seine Arme hingen müde an den Seiten herab. Ich betrachtete das Bein eingehender und bemerkte am Oberschenkel einen dunklen Fleck auf seiner Hose. Als er die Hintertür aufstieß und in die Gasse hinaustrat, hinterließ er am Boden zwar keinen Fußabdruck, aber einen roten Klecks.
»Du bist verletzt«, sagte ich, während ich ihm nach draußen hinterherlief.
»Geht schon.«
»Warum humpelst du dann?«
Anscheinend legte meine Frage einen Schalter bei ihm um: Er richtete sich auf und ging mit gestrafften Schultern zum Auto zurück, ohne auch nur ins Schwanken zu geraten. Allerdings hinterließ er weitere rote Kleckse. Da ich mich so sehr auf die Blutspuren konzentrierte, merkte ich nicht, wie er seine Schwingen verschwinden ließ. Als wir den Wagen erreichten, waren sie weg. Auf seinem entblößten Rücken blieb kein Hinweis darauf zurück, dass sie jemals da gewesen waren.
Phin hielt mir die Tür auf, doch ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Steigst du nicht ein?«, fragte er.
»Ich will mir dein Bein ansehen.«
»Damit ist alles in Ordnung.«
»Es blutet, Phin. Das ist nicht in Ordnung.«
»Nur ein Kratzer. Sie haben mich nicht gebissen.«
»Das ist gut. Dann zeig’s mir.«
Er neigte den Kopf zur Seite. »Wenn ich dir das zeigen würde, müsste ich mitten auf der Straße die Hosen runterlassen, und das mache ich nicht. Also steigst du jetzt ein?«
Okay, das sah ich ein. Ich kletterte über den Fahrersitz auf die Beifahrerseite. »Danke«, sagte ich, nachdem er den Motor angelassen hatte.
Er hielt das Steuer umklammert und zeigte mir nur sein kantiges Profil. Ich konnte ein schimmerndes Auge sehen, das geradewegs nach vorn gerichtet war. »Wofür?«
Wofür? »Dafür, dass du mir da drin das Leben gerettet hast.«
Sein Mundwinkel zuckte. »Gern geschehen.« Schließlich wandte er mir das Gesicht zu. Seine blauen Augen strahlten beinahe schon schmerzhaft intensiv, während er leicht schmunzelte. »Wäre ziemlich dumm, wenn ich die Beschützerin meines Volkes bereits am ersten Tag in ihrem neuen Job verrecken lassen würde.«
Ich lächelte. »Wie’s aussieht, sind diese Flügel in einem Kampf ganz schön praktisch.«
Da wich jedes lockere Schmunzeln aus seiner Miene, und er presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Vielleicht kann das unter uns bleiben.«
»Nur wenn du mir sagst, warum.«
»Du hast etwas mitbekommen, das wir Außenseitern normalerweise nicht zeigen dürfen, Evy. Mit der ersten Verwandlung wollte ich dir etwas klarmachen. Die zweite war allerdings eine instinktive Reaktion im Kampf. Ich hätte mich stärker dagegen wehren sollen. Diese Mischlinge hätten mich so niemals sehen dürfen.«
Hätten Worte körperlichen Schmerz auslösen können, wäre Phin bei dem Selbstvorwurf in seiner Stimme vermutlich inzwischen in die Knie gegangen und hätte wie ein Kleinkind geheult. Ich wusste, wie es war, die Beherrschung zu verlieren, denn das war mir bei meiner Arbeit oft passiert. Und ich kannte auch die nagenden Zweifel an den eigenen Handlungen in der Hitze des Gefechts, wenn sie sich danach als unvorteilhaft herausstellten. Was ich jedoch nicht verstand, war sein Selbsthass – immerhin hatte er nur ein paar Federn zur Schau gestellt.
»Halte mich ruhig für begriffstutzig«, meinte ich, »aber ich kapier’s nicht. Wenn du wütend wirst, wachsen dir Flügel?«
»Nein, das ist nicht …« Er atmete heftig durch die Nase aus. »Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, wieso die Kauzlinge sich für die Friedfertigkeit entschieden haben? Warum wir uns aus Konflikten lieber heraushalten und mit deinen Artgenossen in Frieden leben wollen?«
»Nicht so richtig.«
Es gab viele Dinge bei den Dregs, über deren Gründe ich mir nicht den Kopf zerbrach. Denn es war leichter, die Dinge einfach hinzunehmen, statt sie in Frage zu stellen. Kauzlinge kämpften nicht, dafür waren die Werkatzen immer scharf auf eine Rauferei. Gremlins waren Aasfresser, und Vampire glaubten, sie stünden über allen anderen Lebewesen. Die Menschen schließlich wollten ihre Stadt schützen und unter Kontrolle halten.
Durchdringend starrte Phin mich an, und ich schämte mich für mein mangelndes Interesse. Wenn Wissen Macht war, dann war ich ganz arm dran. »Wieso, Phin?«, sagte ich. »Können alle Werwesen das, was du kannst?«
Er ließ sich mit der Antwort Zeit. Zuerst
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