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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelly Medling
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vollen zehn Punkte auf der Wie-tief-stecke-ich-in-der-Scheiße-Skala verdiente. Es war beruhigend zu merken, dass er seinen Schneid nicht verloren hatte. Ich beugte mich nach vorn, um ihn auf die Stirn zu küssen und seinen Geruch einzuatmen. Sein warmer, herber Duft, der sich mit Krankenhausgerüchen mischte, war mir tröstlich und vertraut.
    »Ich weiß, dass ich nicht erst darum bitten muss«, meinte ich. »Aber alles, worüber wir gerade gesprochen haben …?«
    »Worüber haben wir denn gesprochen?«, fragte er mit gespielter Ahnungslosigkeit.
    »Guter Junge.«
    Als ich schon fast bei der Tür war, blieb ich stehen, denn Phineas starrte mal wieder auf meine Brust. Wenn wir weiterhin zusammenarbeiten wollten, musste es damit ein Ende haben. Darum machte ich auf dem Absatz kehrt, ging zu Wyatt zurück und öffnete den Verschluss meiner Kette. Ich hielt Wyatt das Schmuckstück entgegen, der zunächst den Kreuzanhänger und dann mich fragend betrachtete.
    »Die werde ich mir zurückholen«, sagte ich, und in dem, was ich unausgesprochen ließ, lag genauso viel Bedeutung wie in dem, was ich sagte. Wyatt nahm die Kette entgegen und nickte verständnisvoll.
    An der Tür hielt mich Wyatts Stimme erneut zurück, denn er sagte: »Hey, Phineas?«
    Phin trat einen Schritt nach vorn und legte den Kopf schräg, was ich mittlerweile als Neugier interpretierte. »Ja?«
    »Behalte sie für mich im Auge.«
    Wie lieb von ihm, aber die Bitte war unnötig. Bisher hatten Phin und ich gut aufeinander aufgepasst, und jeder hatte dem anderen etwas gegeben. Das wusste Wyatt zwar, aber er konnte eben nicht dabei sein, um selbst auf mich aufzupassen.
    »Na klar«, antwortete Phin.
    »Sei ein guter Patient«, sagte ich. »Und bring die Schwestern nicht auf die Palme.«
    Wyatt schenkte mir sein dämlichstes Grinsen. »Aber irgendwie muss ich mir doch die Zeit vertreiben.«
    »Dann lies ein Buch«, gab ich über die Schulter zurück und verließ das Zimmer.
    Im belebten Flur blieb ich stehen, damit Phin zu mir aufholen konnte. »Wo treffen wir Jenner?«, fragte ich.
    »In seiner Praxis in der South Street«, sagte Phin.
    »Eine Arztpraxis?«
    »Nein, eine Anwaltspraxis.«
    Ich stöhnte. Warum musste er ausgerechnet Anwalt sein?

9. Kapitel
    14:30 Uhr
    P hin hatte gesagt, die Praxis wäre in der Innenstadt, und dennoch hatte ich mir ein schickes Haus mit Glasfront, aparter Grünanlage, Parkuhren und vielleicht sogar ein paar netten Hecken vorgestellt. Allerdings besaß das Haus, vor dem er anhielt, nichts von alledem. Die Betonwände hatten seit zehn Jahren keine frische Farbe mehr gesehen, und aus den Rissen im Gehsteig wuchsen Löwenzahn und trockene Grasbüschel. Das Auto, neben dem wir geparkt hatten, besaß keine Reifen mehr und war von Graffitis überzogen. Im äußersten Westen von Mercy’s Lot, umgeben von Pfandleihern und Pornoläden, hatte Michael Jenner seine Praxis.
    »Ist er Pflichtverteidiger?«, fragte ich. So stand es zwar auf dem Schild in dem mit Gitterstäben gesicherten Fenster, doch konnte ich es nicht glauben.
    »Überrascht dich das?«
    »Nun ja. Ich habe noch nie einen Pflichtverteidiger gesehen, der einen so feinen Anzug getragen hätte.«
    »Den hat er nur an, wenn es um die Belange der Zusammenkunft geht. Wenn man ihm eine Chance gibt, kann er total nett sein.«
    »Ganz bestimmt.«
    Wir traten ohne zu klopfen ein. In dem kleinen Empfangszimmer roch es nach Gewürzen – nach Nelken, Zimt und irgendetwas Scharfem. Links an der Wand standen vier angestoßene Holzstühle, und gegenüber der Tür befand sich ein verlassener Schalter, der schweigend den Zugang zur einzigen Tür im Raum zu bewachen schien. Außer einem Telefon, einer Kladde und einem ordentlichen Stapel Aktenmappen war der Tisch leer. Bilder hingen nicht an den Wänden, und für wartende Besucher gab es keine Zeitschriften. Spartanisch war noch sehr milde ausgedrückt.
    »Er kann nicht besonders gut sein«, meinte ich. »Offenbar werden seine Dienste kaum gefragt.«
    »Er ist wählerisch, was seine Kunden angeht«, erwiderte Phin. »Er hält sich eher für unsere Leute frei als für eure.«
    Unsere Leute. Faszinierend. »Nur für Werwesen oder allgemein für Dregs?«
    Wie zuvor schon einmal knurrte er. Anscheinend hatte er etwas gegen den Ausdruck »Dreg«. Sicher war der auch nicht als Kosename gedacht, sondern erinnerte ihn daran, mit welchen Augen die Triaden alle Nichtmenschen betrachteten. Als minderwertige Geschöpfe, so wie ich selbst sie stets

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