Die Rache der Jagerin
hinaus. Nach einem kurzen Abstecher in mein Schlafzimmer, um etwas zu holen, verließ ich die Wohnung und war von jedermann genervt, auch von mir selbst. Was ich dagegen tun sollte, wusste ich nicht.
»Chalice! Hey, warte!« Vom anderen Ende des Flurs erklang die Stimme eines Mädchens, und mir platzte beinahe das Trommelfell. Ich brauchte mich nicht erst umzudrehen, um zu wissen, dass es das Nachbarmädchen war, dessen Namen ich immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatte.
In dem Moment öffnete sich die Aufzugtür. Ich schlüpfte hinein und drückte unverzüglich den Türschließer, da ich nicht in der Stimmung war, mich mit dieser Quasselstrippe abzugeben. So bald wollte ich mit niemandem aus Chalices Leben mehr sprechen. Eine Weile lang musste ich dringend wieder Evy sein.
Phin saß auf der Motorhaube und betrachtete mich, als ich auf die Straße trat. Erst als ich so nahe bei ihm war, dass ich ihm das weiße T-Shirt zuwerfen konnte, rührte er sich. Mit schrägem Kopf beäugte er das Hemd.
»Hast du gelauscht?«, fragte ich.
»Ich hab’s versucht, aber die Fenster gehen auf die andere Seite hinaus«, antwortete er.
Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich zuzuklappen, denn seine Ehrlichkeit machte mich sprachlos. Und dass er überhaupt erst versucht hatte, uns zu belauschen, verblüffte mich ebenfalls. »Es geht ihnen gut. Leo scheint größtenteils harmlos zu sein.«
»Größtenteils?«
»Wer ist schon völlig harmlos?«
Die rhetorische Frage stellte ihn lange genug zufrieden, dass er sein T-Shirt anziehen und ins Auto steigen konnte.
»Aber mit Aurora ist alles in Ordnung?«, fragte er, als er das Auto auf die Straße lenkte.
»Alles gut. Das Baby strampelt viel.«
»Das Kind ist stark, genau wie sein Vater.«
Neugierde über die Gesellschaft der Kauz… – nein, die der Coni und Stri – ließ mich den Mund öffnen, um ihm ein paar Fragen dazu zu stellen. Aber aus Respekt machte ich ihn wieder zu. Ich brauchte keine schmerzhaften Erinnerungen wachzurufen und Phins Gedanken auf die Familie zu lenken, die er wegen mir verloren hatte. Den Mund halten, meine Arbeit tun und diejenigen retten, die vom Coni-Clan noch übrig waren – das war es, was ich tun musste.
Beim nächsten Stoppschild fragte er: »Soll ich zum Krankenhaus zurückfahren?«
»Ja.«
Während wir den Fluss überquerten, sprachen wir wenig miteinander. Ich riss das Heftpflaster von dem inzwischen nutzlosen Verband, entfernte die blutgetränkte Mullbinde und legte das Ganze als kompaktes Häufchen auf den Boden. Leicht angewidert schnaubte Phin durch die Nase. Ja, natürlich war es eklig, aber sollte ich den Verband in meine Hosentasche stecken?
»Also, wie ist das jetzt, wenn ich herausfinden möchte, wer sonst noch zu den Zweifachwandlern gehört?«, wollte ich wissen.
»Ich habe dir doch gesagt …«
»Ich weiß, du meintest, dass du darüber nicht entscheiden kannst. Wen soll ich dann fragen? Diesen Jenner, der heute Morgen im Krankenhaus war?«
Phin nickte. »An den müsstest du dich wenden, aber letztlich trifft allein die Zusammenkunft die Entscheidung.«
»Wie lange dauert es, bis man von der Zusammenkunft eine Erlaubnis bekommt?«
»Das kommt darauf an, wie lange die braucht, um alle Leute zusammenzutrommeln.«
»Stunden?«
»Nur wenn du Glück hast.«
Ich stöhnte und trommelte mit den Fingern auf dem Armaturenbrett. »Können wir nicht ein wenig Zeit sparen, indem wir einfach diejenigen fragen, die sich tatsächlich halb verwandeln können? Schließlich seid ihr es, auf die man es am wahrscheinlichsten abgesehen hat.«
»Diese Regeln habe ich nicht aufgestellt, Evy.« Phin war sichtlich angespannt und hielt das Lenkrad fest umklammert. »Ich hatte nie den Wunsch, Mitglied der Zusammenkunft zu sein, aber da von meinem Clan sonst niemand mehr übrig ist, muss ich mich an die Gepflogenheiten halten. Sprich mit Jenner.«
»Glaubst du, dass er noch immer im Krankenhaus ist?«
»Falls nicht, kann ich ihn holen.«
Das klang wie ein Versprechen und zugleich wie eine Drohung. Phins Worte ließen keinen Zweifel daran, dass ich eine Audienz bei Jenner bekommen würde. So oder so.
Ich stand am Fuß des Bettes und sah Wyatt ein paar Minuten lang beim Schlafen zu. Er wirkte friedlich, und jede Spur von Sorge und Erschöpfung war aus seinen Zügen gewichen. Nur sein rechtes Auge war angeschwollen und bläulich verfärbt, und ein heller Verband bedeckte seine linke Schulter. Um seinen Mund spielte ein schwaches
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