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Die Rache der Kinder

Die Rache der Kinder

Titel: Die Rache der Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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ihrer Größe und den hohen Stimmen nach zu urteilen, waren sie noch sehr jung. Obwohl sie bereits zwei Meilen vom Heim entfernt waren, sprachen sie noch immer leise.
    Sie zitterte leicht, denn sie hatte nicht mit einem nächtlichen Querfeldeinmarsch gerechnet. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie den Kindern weiter folgen konnte. Sie wusste, was sich hinter der Ecke verbarg; letzten Frühling war sie schon einmal allein hierhergekommen. Damals hatte die friedliche Stille des Ortes sie gerührt, und sie erinnerte sich daran, wie das Sonnenlicht durch die Wipfel der Birken gefallen war, und an die Lieder der Vögel, die sie beflügelt hatten.
    Plötzlich kam ihr der Gedanke, die Kids könnten etwas Dummes vorhaben, Vandalismus vielleicht, und sie hoffte von ganzem Herzen, dass dem nicht so sei. Dabei ging es ihr allerdings nicht um das steinzeitliche Denkmal, sondern um die Kinder, weil sie die Vorstellung faszinierte, dass es abenteuerlustige Kinder waren, interessante Kinder, und kein Haufen dummer Rowdys.
    Sie wartete, bis die Kinder unter den Bäumen verschwunden waren; dann schirmte sie ihre Taschenlampe ab, bis nur noch ein hauchdünner Lichtstrahl zu sehen war, und machtesich vorsichtig auf den Weg durch den Stacheldrahtzaun; dabei hielt sie sich auf dem Gras, sodass ihre weichen Sohlen keinerlei Geräusch verursachten.
    Auf der Kuppe blieb sie erneut stehen. Sie sah die Lichtung vor sich, das Denkmalschutzschild und den Grabhügel.
    Die Kinder waren verschwunden – und mit ihnen der Schein der Taschenlampen.
    Sie hielt die Luft an, wagte nicht, sich zu bewegen.
    Nicht dass sie sich gefürchtet hätte. Dies hier mochte nachts ein unheimlicher, ja Furcht erregender Ort sein, doch das Mondlicht, das als sich stetig veränderndes Schimmern durch die sich wiegenden Baumwipfel fiel, verlieh der Anlage eine Art heitere Ruhe.
    Sie war ohnehin viel zu fasziniert, als dass sie Angst gehabt hätte.
    Dann hörte sie ein neues Geräusch: ein Kratzen.
    Streichhölzer wurden entzündet.
    Links unterhalb des Grabhügels war plötzlich ein Licht.
    Sie erinnerte sich an den Aufbau des Ortes und daran, was von dem Grab übrig geblieben war, und sie erkannte, dass die Kinder zwischen den beiden Sarsensteinen am Eingang hindurch in den Gang dahinter vorgedrungen waren.
    Sie schlich näher heran, wobei ihr das Knarren der Zweige und Äste sowie die Geräusche der Nachtvögel halfen, und …
    Die Kinder redeten miteinander.
    Sie trat noch näher heran, bis sie direkt an einem der großen Sarsensteine stand.
    Nein, stellte sie fest, die Kinder redeten nicht, sie lasen .
    Sie lasen laut aus einem Roman vor, den sie kannte. Auseinem Buch, das sie selbst in der Schule gelesen hatte – ein berühmtes Buch, das sie auf Anhieb erkannte.
    Das war der Augenblick, an dem für sie alles begann: mit einer seltsamen, beinahe körperlich spürbaren Erregung, als hätte jemand eine Saite in ihr gerührt, deren Klang nun in ihrem Innern widerhallte und sie von innen heraus schimmern ließ.
    Sie ging zwei weitere kleine Schritte nach links, spähte durch die Dunkelheit in den Gang hinein und sah die Kinder.
    Sie standen im Halbkreis, die jungen Gesichter von Kerzen erhellt. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft.
    Es waren vertraute Gesichter aus Challow Hall. Zwei Jungen und zwei Mädchen, alle ungefähr zehn Jahre alt und vollkommen fasziniert.
    Es waren tatsächlich keine Vandalen. Es waren bloß Kinder.
    Sie lasen aus einem Buch, das eines der Mädchen in Händen hielt.
    Und das war der Punkt: Es ging nicht darum, was sie lasen – auf sie, die beobachtende Erwachsene, hätte es vermutlich die gleiche Wirkung gehabt, hätten sie Mark Twain, Shakespeare oder Enid Blyton gelesen. Nein, es war schlicht die unerwartete Tatsache, dass sie überhaupt etwas lasen, noch dazu nachts und an einem solch außergewöhnlich atmosphärischen Ort.
    Es war die Intensität ihres Tuns.
    Sie hatte das Gefühl, als finde hier etwas Außergewöhnliches statt.
    Etwas Besonderes.
    Sie waren etwas Besonderes.
    In diesem Augenblick des Erwachens überkam sie einGefühl, das sie noch nie gehabt hatte, noch nicht einmal damals, als ihre Mutter noch lebte.
    Ein tiefes Gefühl der Verbundenheit.
    Sie musste eine schwierige Entscheidung treffen. Sollte sie gehen und die Kinder allein lassen? Oder sollte sie sie ansprechen?
    Sie wusste sofort, dass sie nicht gehen konnte.
    »Hallo«, sagte sie und fügte rasch hinzu: »Habt keine Angst.«
    Die Kinder fuhren erschrocken

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