Die Rache der Liebe
finden, und diesmal hatte er Erfolg. Zuerst tastete er sein Gesicht ab, denn der Schmerz schien überall zu sein, doch alles, was er entdeckte, waren leichte Bartstoppeln. Das bewies ihm, dass er nicht lange ohnmächtig gewesen war, vielleicht einen Tag - denn wie hätte er wissen können, dass ihn in den vergangenen zehn Tagen eine zärtliche Hand behutsam rasiert hatte? Schließlich fand er die Beule an seinem Hinterkopf, die ihm, als er darüberstrich, ein scharfes Keuchen entlockte. Die Schwellung war im Laufe der Zeit beträchtlich zurückgegangen und mittlerweile von einer Größe, die ihn erleichtert aufatmen ließ: Er war also doch nicht so schwer verletzt, wie er befürchtet hatte. Doch er fand an der Beule keine Spuren von verkrustetem Blut, und so fragte er sich, was dann für seine enorme Schwäche verantwortlich sein könnte.
Zunächst vermutete er, dass er noch an einer anderen Stelle verwundet war, die er jedoch erst aufspüren müss te. Also unterzog er seinen Körper einer genauen Untersuchung, schüttelte jeden Arm, jedes Bein, um zu sehen, ob ihm die Bewegung Schmerzen verursachte. Es ließ sich nichts lokalisieren, außer einem allgemeinen Unwohlsein, Verspannungen, einem leeren Gefühl im Bauch, was freilich nicht allzu überraschend war, wenn er tatsächlich seit einem Tag nichts gegessen haben sollte, sowie einem sonderbaren Brennen an den Fußsohlen, als hätte jemand mit dem Stock darauf geschlagen. Und weil dies für ihn, ebenso wie seine Schwäche, keinen Sinn ergab, grübelte er nicht weiter darüber nach, denn das Denken verstärkte nur den Schmerz in seinem Kopf.
Allerdings fragte er sich, wie er nach Wyndhurst zurückkommen sollte, das nicht weiter als einen Tag, zu Fuß womöglich auch zwei Tage, entfernt war, wenn ihn allein schon der Gedanke, sich aufzusetzen, mit Schrecken erfüllte. Etwa eine Stunde lang blieb er einfach reglos liegen, unfähig, sich zum Aufstehen zu entschließen. Schließlich gab er sich einen Ruck, stützte sich zunächst auf die Ellbogen und schob sich dann Stück für Stück nach oben, bis er endlich aufrecht saß. Vor diesem Moment hatte er sich zu Recht gefürchtet, denn sofort überfiel ihn Schwindel und gleich darauf eine unbeschreibliche Übelkeit. Er beugte sich zur Seite, um sich zu übergeben, doch es kam nichts heraus. Aber das Würgen hörte nicht auf, erschütterte seinen ganzen Körper und jagte weitere Messer in seinen Schädel, bis der Schmerz schließlich derart überhandnahm, dass er abermals in erlösende Dunkelheit fiel.
Bei seinem nächsten Erwachen war es noch immer hell, aber er konnte nicht sagen, ob es derselbe Tag war. Auch der Schmerz war noch da, genauso schlimm wie vorher, und die Erinnerung an seinen Versuch, sich aufzurichten, hielt ihn eine ganze Weile von diesem neuerlichen Wagnis ab. Letztendlich war es das hohle Gefühl in seinem Bauch und die seltsame Schwäche, die ihn dazu bewegten, sich aufzuraffen. Er brauchte etwas zwischen die Zähne - bei Odin, er fühlte sich wie kurz vor dem Hungertod! -, ein weiches Bett und die Fürsorge seiner Schwester, und nichts davon würde er bekommen, wenn er weiter hier liegenbliebe. Also biß er die Zähne zusammen, wild entschlossen, diesmal ganz aufzustehen und sich auf den Weg zu machen. Allerdings setzte er dieses Vorhaben in sehr kleinen Schritten in die Tat um.
Sobald er aufrecht saß, kam der Schwindel wieder, aber er zwang ihn mit seiner letzten verbliebenen Kraft nieder und schaffte es auch, die begleitende Übelkeit einigermaßen im Zaum zu halten. Dafür schien nun sein Sehvermögen gestört; er sah alles verschwommen, aber glücklicherweise war das kein Dauerzustand, sondern rollte wie eine Woge heran und verebbte wieder.
Während er so dasaß und wartete, bis er genügend Kraft zum Aufstehen hätte, fiel ihm plötzlich auf, dass die Kleidung, die er trug, nicht die seine war. Die schlammfarbene Hose saß so eng, dass sie gar nicht über Kreuz geschnürt werden brauchte, und reichte ihm bis knapp über die Knie. Der graue Überrock war weit, aber kurz und zweifellos für einen Mann angefertigt, der das Essen zu sehr liebte. Da der Überrock so weit war, bemerkte Selig seinen Gewichtsverlust gar nicht, was ihm zwar seine Schwäche erklärt, aber gleichzeitig die Frage aufgeworfen hätte, wie er in so kurzer Zeit derart hatte abmagern können. Die Stoffschuhe hatten Löcher in den Sohlen; falls er damit herumgelaufen war - was er vermutete -, konnte dies der Grund für seine
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