Die Rache der Liebe
soweit sie wußte, absolut einmalig.
Ihre Neugierde war geweckt, und so verließ sie die Tafel, noch ehe ihr Hunger ganz gestillt war. Ihr ständiger Begleiter folgte ihr nach, allerdings nicht, ohne sich sehnsüchtig nach seinem unbeendeten Mahl umzusehen, denn aufgrund seiner riesenhaften Ausmaße war sein Appetit natürlich weitaus größer als der ihre.
Das Loch war nicht mehr wie einst nur eine tiefe Erdgrube, in die die Gefangenen hineingestoßen wurden. Jetzt war es ein stabiler, fensterloser Verschlag von bescheidener Größe mit an den Wänden befestigten Ketten. Nur der Name war noch derselbe geblieben.
Erika war erst einmal hier gewesen, nicht etwa, weil es so wenig Gefangene gab, sondern weil sie es vorzog, das Verhör in der Halle abzuhalten, für den Fall, dass man den Feind gar nicht einzusperren brauchte. Ihr war das Loch mit seiner ganzen Brutalität zutiefst ver hasst - mit den Ketten, den Peitschen, die an den Wänden herabbaumelten, und dem Gestank nach Fäulnis, Unrat und Angst.
Zum Glück wurden die Gefangenen rasch verurteilt und muss ten nicht allzulange im Loch ausharren. Und konnten die angeklagten Männer oder Frauen die Geldbußen für ihre Vergehen nicht aufbringen, machte Erika lieber von dem einheimischen Gesetz Gebrauch, sie für eine gewisse Zeit unter Leibeigenschaft zu stellen - meist nicht länger als ein Jahr -, als auf Wulnoths Methode zurückzugreifen, der die Menschen am liebsten halbtot peitschte.
Spionage indes hatte mit Krieg und Verteidigungsanlagen zu tun und zählte damit zu jenen Verbrechen, die nicht mit einer Geldbuße zu ahnden waren. Wurden strategische Geheimnisse verraten, konnten ganze Armeen dadurch ausgelöscht werden. Tod durch Erhängen wäre für einen Spion, den man in Kriegszeiten entdeckte, eine verdiente Strafe, und so war Erika froh, dass die Kriege vorbei waren, denn dann konnte das Vergehen nicht so schwerwiegend sein. Ragnar, der in all diesen Kriegen gekämpft hatte, wäre da anderer Ansicht gewesen. Aber er war nicht da.
Als der Wachmann sie in den Kerker einließ, fand sie dort auch Wulnoth vor. An der einen Wandseite brannte eine Fackel, die ein gespenstisches Licht verströmte und den Raum mit beißenden Rauchschwaden erfüllte. Erika befahl, die Tür offenzulassen, damit etwas frische Luft hereinkäme. Das Loch war Wulnoths Domäne; ließ er es denn niemals saubermachen?
Turgeis bezog unauffällig an der im Dunkeln liegenden Wandseite neben der Tür Stellung. Der Gefangene war mit hochgestreckten Armen an der gegenüberliegenden Wand festgekettet. Und es waren auch nur seine Arme zu erkennen, da Wulnoth direkt vor ihm stand und mit seiner vierschrötigen Gestalt die Sicht versperrte. Er zerrte den Kopf des Gefangenen an den Haaren nach hinten, ließ ihn aber bei Erikas Erscheinen los und trat einen Schritt beiseite. Der Kopf des Gefangenen war bereits wieder auf seine Brust gesackt, als ob er ohnmächtig wäre.
Erika merkte, wie die Wut in ihr hochstieg. Fragend schaute sie Wulnoth an, in dessen Miene jedoch nicht Schuld, sondern eindeutig Enttäuschung zu lesen war.
»Wir kriegen aus ihm nichts heraus, Mylady. Er verstellt sich«, bemerkte Wulnoth in der einheimischen Mundart.
Erika hatte diesen Menschen Dänisch beigebracht und wünschte auch, dass sie es benutzten, aber das war ein langwieriger Prozess . Ihr war klar, dass die Leute, sobald Erika ihnen den Rücken kehrte, sofort wieder ins Angelsächsische zurückfielen. Wulnoth hingegen benutzte auch in ihrem Beisein seine eigene Sprache, und obwohl Erika diese Sprache ausreichend beherrschte, weigerte sie sich jedesmal, darauf zu antworten. Erst wenn er ins Dänische überwechselte, gewährte sie ihm ein Gespräch.
Es war für den Charakter des Mannes typisch, dass er, wann immer sie etwas zu besprechen hatten, dieses kleine Machtspiel versuchte. Wahrscheinlich hoffte er, sie irgendwann dabei zu ertappen, wie sie ihm auf angelsächsisch antwortete. Dann würde er glauben, er habe eine Art Sieg über sie errungen. Erika befriedigte es zutiefst, dass sie diesen Fehler noch nie begangen hatte.
»Er gibt vor, unsere Sprache nicht zu verstehen«, fuhr Wulnoth fort, »und als sei er so schwach, dass er nicht einmal mehr stehen kann. Angesichts seiner Stärke ist das geradezu lächerlich.«
Erika betrachtete den Gefangenen und muss te zugeben, dass Wulnoth recht hatte. Die Stärke war nicht zu verleugnen; sie war in seiner ungewöhnlich breiten, muskulösen Brust und in den Armen, die
Weitere Kostenlose Bücher