Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
ihrem Gebiet zuschlagen. Dagegen mussten sie sich wappnen. Aber das ging nur, wenn Chassim wieder ganz gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte war, der alte Graf war dazu nicht mehr in der Lage. Chassim würde bei den Bauern und Nachbarn in der Grafschaft für ein gemeinsames Vorgehen werben, eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen und Jagd auf die Bande machen, dazu waren sie zu ihrer eigenen und der Sicherheit ihrer Untertanen verpflichtet. Dies hatte unbedingten Vorrang, so lange mussten auch private Angelegenheiten zurückstehen – wie die eigentlich geplante Hochzeit. Dafür hatte Anna größtes Verständnis, im Gegenteil, sie war geradezu erleichtert, was Chassim, der voll und ganz in seinen Aktivitäten, Besprechungen und Plänen aufging, gar nicht weiter auffiel.
Auch der Vogt wurde verständigt, aber von dieser Seite war keine große Hilfe zu erwarten, sie mussten die Angelegenheit schon selbst in die Hand nehmen. Der Winter stand vor der Tür, das ließ zumindest hoffen, dass sie bis zum Frühjahr Zeit hatten, die nötigen Vorbereitungen zu organisieren. In einem strengen Winter waren die Straßen und Wege zuweilen unpassierbar, sie nahmen an, dass sich auch Ritter Baldur in irgendein Versteck zurückziehen würde, um dann, sobald das Wetter wieder besser wurde, erneut zuzuschlagen.
Und nun war endlich der Augenblick für den jungen Grafen Chassim von Greifenklau gekommen, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Er kletterte mit Hilfe von Bruder Thomas auf den Eichentisch vor dem Kamin in der großen Halle von Burg Greifenklau und legte sich hin. Anna würde ihm nun den Gips abnehmen.
Bruder Thomas reichte Anna feierlich Hammer und Meißel. Sie nahm die beiden Werkzeuge entgegen und hielt noch einen Moment inne, in dem sie jeden ansah, der um den Tisch versammelt war.
Jetzt, drei Wochen nach der Rückkehr aus Oppenheim, glaubte Anna, Chassim endlich von seinem Stützgips befreien zu können. Sie hatte so lange gezögert, weil sie ganz sichergehen wollte, dass sein gebrochenes Schienbein auch wirklich wieder ganz zusammengewachsen war. Gemeinsam waren sie und Bruder Thomas nach eingehender Erörterung zu dem Entschluss gekommen, dass es nun genug war. Da niemand in dieser Sache Erfahrung hatte, war Chassim, dem die dicke Gipshülle allmählich zur Belastung geworden war, immer ungeduldiger geworden. Er wollte endlich seine alte Beweglichkeit wiedererlangen, allzu viele Aufgaben warteten auf ihn.
Neben Anna standen Berbelin und Chassims Vater, der alte und fast blinde Claus von Greifenklau, hager, stolz und mit einem Lächeln im Gesicht. Er hatte sich extra für diesen großen Moment von Berbelin, Annas Magd, den Bart rasieren lassen. Inzwischen hatte er Berbelin nach und nach zu seiner persönlichen Dienerin gemacht, weil er sie mochte und ihre unkomplizierte, aufmerksame Art schätzte. »Der Herr blind und die Magd stumm – das passt doch gut zusammen«, pflegte er lachend zu sagen, wenn sie miteinander zu tun hatten. »Ich sehe nicht, wenn sie was falsch macht, und sie kann mir nicht widersprechen. Eigentlich ideale Voraussetzungen für eine gute Ehe!« Da konnte sich sogar die sonst so ernste Berbelin ein Lächeln nicht verkneifen, zumal sie ja wusste, dass ihr Herr es nicht sehen konnte. Aber er spürte es.
Bruder Thomas, der es in seinem schwarzen Mönchshabit in Breite und Höhe mit jedem aufrecht stehenden Bär aufnehmen konnte, nickte Anna aufmunternd zu. Er hatte wie immer, wenn er im Dienst war, seine Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt und hielt schon das eingegipste Bein des Delinquenten fest. Er war von seiner Verletzung endgültig genesen und genauso gespannt wie seine Medica, was jetzt unter dem Gips zum Vorschein kommen würde.
Der Gips war an vielen Stellen schon reichlich abgebröckelt und mürbe. Anna brauchte nicht viel Kraft. Behutsam hämmerte sie auf den Meißel, bis ein Sprung entstand. Ein paar leichte Schläge mit dem Hammer genügten, und der Gips fiel in dicken Brocken vom Bein. Darunter kam die große Narbe rosafarben zum Vorschein. Sie schien gut verheilt. Anna prüfte sie mit den Fingerspitzen. Auch Bruder Thomas begutachtete sie und warf der Medica einen zufriedenen Blick zu. Anna wagte es, fester zuzudrücken. »Tut das weh?«, fragte sie. Chassim schüttelte den Kopf. Anna untersuchte nun sein Bein genauer, indem sie es sorgfältig abtastete. »Ich kann die Stelle spüren«, sagte sie. »Dort ist der Knochen wieder zusammengewachsen und leicht
Weitere Kostenlose Bücher