Die Rache der Medica (Die Medica-Reihe) (German Edition)
er sein Schwert umgegürtet und Anna persönlich nach Oppenheim eskortiert!
Dieser Gedanke ließ ihn die Gefilde des Selbstmitleids verlassen. Er war wütend auf sich selbst und über seine Hilflosigkeit. Aber lieber wütend als zimperlich und wehleidig. Diese Wut, auch wenn sie ein Ausdruck seiner Ohnmacht war, gefiel ihm besser, weil er sich damit zumindest einbilden konnte, dass sie etwas Männliches war. Ein trauriger Rest von Würde und Ehre war ihm also noch geblieben. Er seufzte tief. Dann würde er also erneut warten und leiden, bis Chassim und Anna wieder nach Hause kamen. Was blieb ihm anderes übrig.
III
J etzt waren sie also abermals bei widrigstem Wetter unterwegs mit ihrem Gefährt, gezogen von zwei Pferden, die sich stoisch gegen den Wind und die tanzenden Schneeflocken stemmten.
Unter gewöhnlichen Umständen wäre kein halbwegs vernünftiger Mensch auf die Idee gekommen, zu dieser Jahreszeit und vor allem bei diesen miserablen und auch gefährlichen Witterungsbedingungen mit dem Pferdewagen über Land zu ziehen. Die Wege und Straßen waren grundsätzlich schon für ein vierrädriges Gespann mehr schlecht als recht zu befahren, im Winter und bei Schneeschmelze waren sie praktisch unpassierbar. Da kam man nur, wenn es unbedingt sein musste, zu Fuß oder mit einem Reitpferd weiter. Aber dies war nun einmal ein absoluter Notfall, und Anna hätte keinen Wimpernschlag gezögert, die Fahrt trotzdem zu riskieren.
Als sie frühmorgens einen Blick aus der Scheune warf, wo der Wagen schon von Bruder Thomas beladen und abfahrbereit dastand, und das dichte Schneetreiben sah, hatte sie es Bruder Thomas freigestellt, ob er mitkommen wollte oder nicht. Der war richtig wütend geworden, hatte sich wortlos auf den Kutschbock gesetzt und mit den Zügeln in der Hand nur darauf gewartet, dass der Stallbursche die Tore ganz öffnete. Bruder Thomas war so dick vermummt, dass gerade noch ein Sehschlitz für seine Augen blieb, Kinn- und Stirnpartie waren von einem wollenen Tuch bedeckt. Anna, die inzwischen neben Bruder Thomas Platz genommen hatte, sah nicht viel anders aus, auch sie hatte sich mit Berbelins Hilfe in mehrere Lagen Wollstoff gewickelt. Das war auch bitter nötig, denn im Freien trieb ihnen der eiskalte, stürmische Wind die Schneeflocken so dicht entgegen, dass sie kaum den Weg aus der Burganlage und die Serpentinen hinunter fanden.
Nach ein oder zwei Meilen waren sie nahe daran, wieder umzukehren, als das dichte Schneetreiben plötzlich nachließ. Es klarte auf, und sie konnten, wenn auch mit Mühe, weiterfahren. Es blieb weiterhin kalt, was ihnen zugutekam, denn der Untergrund war dadurch hart gefroren. Zwar gab es etliche Schneeverwehungen, was die Orientierung und das Vorwärtskommen erschwerte, aber der Schnee war wenigstens nicht nass und schwer, sondern kristallen und leicht wie Pulver.
Um nicht auf dem Kutschbock einzufrieren, lieferten sich Anna und Bruder Thomas wenigstens heiße Streitgespräche. In Anwesenheit von Jeronimus wäre das natürlich nicht möglich gewesen, bei einer Denunziation durch den Knochenhauer hätte ihnen das eine Anklage wegen Häresie eingetragen. Bruder Thomas zog Anna gern damit auf, dass sie ihren Adelstitel nicht verwenden wollte, sondern sich nur als »Medica« anreden ließ. Schließlich war sie eine geborene von Hochstaden, auch wenn sie das erst vor kurzer Zeit von ihrem Ziehvater erfahren hatte. Titel und Standesdünkel waren ihr ein Gräuel, sie hatte sich die Titulatur »Medica« mit eigenem Einsatz, Können und Engagement verdient und war strikt der Meinung, dass man nach seiner Hände Arbeit, seinem Verstand und seinem Können beurteilt werden sollte, nicht nach seiner Herkunft oder seinem Geschlecht. Aber mit dieser Meinung stand sie ziemlich allein da, nur Bruder Thomas dachte ähnlich, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie Annas Visionen, wie er es immer nannte in Anspielung an die Visionen der Hildegard von Bingen, jemals Wirklichkeit werden sollten. Ihr heimlicher Wahlspruch war ein Satz des römischen Dichters Horaz: Sapere aude. Wage zu wissen, oder, frei interpretiert: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Ein Unding, so etwas überhaupt nur zu denken, geschweige denn laut auszusprechen. Das grenzte schon an Gotteslästerung, erst recht aus dem Mund einer Frau. Bruder Thomas vermutete, dass Hildegard von Bingen ihre streitbaren Meinungsäußerungen als Frau nur deshalb als Visionen verpackt ausgegeben hatte, weil die
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