Die Rache Der Wanderhure
der Wald zu einer kleinen Lichtung, und sie sah in einer Entfernung einen üppig behangenen Kirschbaum. Ohne daran zu denken, dass die Zeit für dieses Obst längst vorbei war, hastete sie darauf zu und rupfte die roten Früchte mit beiden Händen von den Zweigen. Doch als sie die ersten in den Mund steckte und darauf herumkaute, klärte sich ihr Blick wieder, und sie starrte entgeistert auf giftige Vogelbeeren. Mit einem Aufschrei warf sie das Zeug fort und spuckte alles aus, was sie im Mund hatte. Gleichzeitig reagierte ihr Magen, und sie erbrach einen Schwall grüngelber Galle.
Es dauerte eine Weile, bis Marie wieder in der Lage war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihre Kraft war aufgebraucht, dringend brauchte sie eine Pause. Auf der Lichtung konnte sie jedoch nicht bleiben. Daher ging sie weiter, bis sie wieder in das Grün des Waldes eintauchen konnte, verließ kurz darauf den Pfad und kauerte sich unter einem dichten Busch zusammen. Etwas trockenes Moos und die ersten Herbstblätter mussten als Zudecke reichen, dann sank sie ansatzlos in einen von Alpträumen geplagten Schlaf, in dem sie durch schier endlose Wälder irrte. Immer wenn sie glaubte, den richtigen Weg gefunden zu haben, sah sie den schwarzen Mönch vor sich, der mit einer Armbrust auf sie zielte.
3.
M arie erwachte, als ihr Magen schmerzhaft knurrte, und sah sich erschrocken um. Wenn die Sonne nicht rückwärts gewandert war, hatte sie die ganze Nacht und den halben Vormittag verschlafen. Dabei saßen ihr bösartige Verfolger im Nacken. Mit schmerzenden Gliedern kämpfte sie sich auf die Beine, löschte den brennenden Durst an einer nahen Quelle und weinte vor Hunger.
Trotzdem ging sie Stunde um Stunde nach Osten. Kurz vor dem Abend entdeckte sie auf einer kleinen Lichtung mehrere Büschel Löwenzahn. In ihrer Zeit als wandernde Hure hatte sie von Hiltrud gelernt, dass man die Blätter essen konnte. Daher kniete sie sich nieder, rupfte ein Blatt nach dem anderen ab und steckte es in den Mund.
Ein Geräusch riss sie hoch. Ohne zu schauen, huschte sie tiefer in den Wald und versteckte sich hinter einem dichten Gebüsch. Dann erst begriff sie, was sie aufgeschreckt hatte. Es waren Hufschläge, in die sich das Klirren von Eisen und erregte Stimmen mischten. Als Marie zwischen den Zweigen hervorspähte, sah sie nicht weit von sich den schwarzen Mönch das Pferd zügeln.
Gerade wandte er sich seinem Nebenmann zu. »Wir haben ihre Spur verloren!«
Seine Stimme schmerzte in Maries Ohren und weckte eine verschwommene Erinnerung, die sie nicht einzuordnen wusste.
»Ich schlage vor, wir lagern hier«, antwortete der Edelmann, den Marie zu ihrer Verwunderung als Falko von Hettenheim identifizierte.
Was hatte der Graf mit dem schwarzen Mönch zu schaffen? Da entdeckte sie weitere Männer aus Hettenheims Schar, die mit auf Hohenstein gewesen waren, um Michel abzuholen. Hier ist etwas faul, sagte sie sich und schlich vorsichtig auf den Rand der Lichtung zu, um mehr zu erfahren.
Keine zehn Schritte von ihr entfernt saß der Inquisitor auf seinem Pferd und schwankte, ob er lagern lassen oder den Befehl geben sollte, weiterzureiten. Er begriff jedoch, dass er den Männern keinen weiteren Nachtritt mehr zumuten durfte, wenn er nicht wollte, dass sie ihn kurzerhand verließen.
Daher nickte er Hettenheim zu. »Wir übernachten hier. Morgen früh soll ein Teil Eurer Männer ausschwärmen und alle Ortschaften in dieser Gegend absuchen. Durchkämmt jeden Bauernhof, jede Köhlerhütte und jede Kate.«
Ruppertus verstummte einen Augenblick, dann klang seine Stimme erneut auf. »Wenn ein Bauer ein Pferd hat, tötet es. Ebenso, wenn ihr bei einem Köhler ein Maultier seht.«
»Aber die Bauern brauchen die Pferde zum Pflügen!«
Selbst einem hartgesottenen Mann wie Hettenheim war dieser Befehl zuwider, doch Ruppertus sah herrisch auf ihn herab.
»Sollen sie doch ihre Weiber und Kinder vor Pflüge und Wagen spannen! Tötet alles, was in der Lage ist, einen Menschen zu tragen. Die Kastellanin darf uns nicht entkommen – und wenn der Himmel einstürzen sollte!«
Der Mann ist verrückt!, durchfuhr es Marie. Gleichzeitig bedauerte sie die Menschen, denen ihretwegen Leid zugefügt werden sollte, und verfluchte ihre Machtlosigkeit. Doch sie war nicht bereit, sich um anderer willen diesem Mann auszuliefern.
In ihre Überlegungen eingesponnen, übersah Marie beinahe, dass einige Krieger in den Wald kamen, um trockenes Holz für ein Lagerfeuer zu suchen. Gerade
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