Die Rache des Chamäleons: Thriller
sein?«, fragt sie. »Dass jedermann einfach jedermanns Leben übernimmt.«
Er antwortet nicht. Dass jedermann einfach jedermanns Leben nehmen kann, denkt er.
»Dass man plötzlich jegliche Kontrolle über sein Leben verliert?«, sagt sie.
»Es muss nicht so sein«, sagt er. »Es muss nicht dazu kommen.«
»Vielleicht ist es immer so gewesen«, sagt sie. »Dass wir keine Kontrolle über unser Leben haben.«
Neben der Fontäne steht eine kopflose Statue. Er hat sie schon früher gesehen.
»Ich fühle mich wie der da.« Er nickt mit dem Kopf zu der Statue.
»Woher weißt du, wie er sich fühlt?«, fragt sie.
»Wie ich«, sagt er wieder. »Kopflos.«
»Die Frage ist, ob er von Anfang an keinen Kopf gehabt hat«, sagt sie.
»Das könnte auch sein«, sagt er.
»So etwas kann man richten.«
»Vielleicht ist es ihnen egal«, sagt er.
»Oder sie sind gerade dabei«, sagt sie. »Der Kopf ist in Arbeit.«
»Sobald wir abgereist sind«, sagt er.
»Heute Abend«, sagt sie.
»Es kommt darauf an, den Kopf an der richtigen Stelle zu haben«, sagt er.
»Nicht unter dem Arm«, sagt sie.
»Der Junge hat ihn nicht einmal unterm Arm«, sagt er.
»Der Junge?«
»Die Statue. Ich weiß nicht, wie er heißt. Er sieht aus wie ein griechischer Gott. Aber wir sind ja nicht in Griechenland. Oder?«
»Nein, hier ist nicht Griechenland.«
»Ich wünschte, ich wäre in Griechenland. Dort kümmern sie sich um ihre Statuen.«
»Nächstes Mal fahren wir nach Griechenland«, sagt sie. »Dort hat man mehrere Götter zur Auswahl. Da hat jeder seinen Gott oder seine Göttin.«
»Hier haben sie nie andere Götter als Gott gehabt«, sagt er. »Allah haben sie vor langer Zeit gehabt, aber er ist auch ein Gott.«
»Ich wünsche mir, dass er heute bei uns ist«, sagt sie. »Gott oder wie immer er heißt.«
»Es heißt, Gott ist überall.« Er zeigt wieder mit dem Kopf auf die Statue. Sie sind nicht viele Schritte gegangen. Vielleicht sind sie stehen geblieben. »Er sieht stark aus, obwohl ihm der Kopf fehlt. Er steht aufrecht. Er steht immer noch aufrecht.«
»Wollen wir gehen?«, sagt sie.
»Was sollen wir so früh am Strand?«, fragt er.
»Es kann jeden Moment so weit sein«, antwortet sie.
Die Sonne hat sich weiter über den Himmel geschoben. Sie haben gebadet und im Schatten unter dem Sonnenschirm gelegen. Sie haben noch einmal gebadet. Er hat das Salz im Gesicht behalten, hat es nicht abgeduscht. Das Spannen der Haut hat ihn daran erinnert, dass er noch ein Gesicht hat.
Jetzt duscht er, die Schatten auf dem Sand sind lange Speere. Es sieht aus, als wäre er von einem Heer umzingelt worden. Gottes Armee, denkt er. Sie wartet, sie wacht, wartet ab.
Er tritt unter der Dusche hervor, die in der Mitte des Strandes auf eine Holzplatte montiert ist. Blinzelnd stellt er fest, dass die meisten Badenden ihre Sachen zusammenpacken und gehen. Zu den wenigen, die noch da sind, zählen die Volleyballspieler, in ihrem ewigen Spiel, das am Wasser stattfindet. Die Spieler haben eine ewige Kondition.
Bis jetzt ist also nichts passiert. Alles ist, wie es immer war. Alle leben noch, denkt er. Nur das Meer ist gestorben.
»Wollen wir an die Bar gehen?«, fragt er.
Er schaut zur Strandbar. Dort sind jetzt nur noch wenige Gäste. Schade, es ist die beste Zeit am Tag, sich in eine Bar zu setzen, besonders eine Strandbar, wenn das Licht am schönsten ist.
»Dafür haben wir keine Zeit«, sagt sie.
»Bald ist der Tag vorbei.«
»Nein, Peter.«
»Nur ein Bier.«
»Wir haben keine Zeit.«
Sie hat ihrer beider Handtücher über die Liegestühle gebreitet. Die Handtücher werden vom Sonnenlicht beschienen und haben eine andere Farbe, als gehörten sie nicht ihnen.
Jetzt, denkt sie, das ist der Moment. Das ist deine Zeit auf dieser Erde.
Sie hebt ihre Basttasche auf, es sieht so aus, als würde sie etwas darin suchen, aber nicht finden. Es ist einfach nicht zu finden, was sie sucht.
Der Mann, der das sieht, steht an einem Fenster auf der anderen Seite der Promenade mit einem Fernglas vor den Augen.
Durch das Fernglas sieht er, dass sie aufhört in ihrer Tasche zu kramen, aufschaut und etwas zu dem Mann neben ihr sagt. Sie streckt einen Arm aus. Vielleicht zeigt sie irgendwohin. Der Mann nickt, zweimal.
Sie schlüpft in ihre Sandalen und entfernt sich, geht durch den Sand zur Treppe, die zur Strandpromenade führt. Einmal dreht sie sich um. Durch das Fernglas ist jetzt der Mann zu sehen, er hat den Blick abgewandt und schaut auf das
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