Die Rache des Kaisers
in Bewegung. Die Menge der Soldaten reichte kaum dazu, die gesamte Umwallung der Stadt zu besetzen. Bei Angriffen mußten die betroffenen Abschnitte verstärkt werden, so daß an mehreren Plätzen weitere Kämpfer verfügbar sein mußten, um schnell verteilt werden zu können. Erst nach drei Tagen und Nächten gelang es den Hauptleuten, alles so einzurichten und zu gruppieren, daß wir einen Tag Einsatz und einen Tag Ruhe hatten.
Und die Türken deckten uns mit allem ein, was ihnen lieb war und für uns teuer wurde. Dreihundert Geschütze, um die Stadt verteilt. Schwadronen schneller Reiter, die sich einem Mauerabschnitt näherten, den Verteidigern einen Pfeilhagel bescherten und nie lang genug in Schußweite blieben, daß man gründliche Gegengaben hätte verabreichen können. Brandpfeile wurden ungezielt über die Mauer geschossen, trafen jedoch fast immer etwas, das sofort zu brennen begann. Eine der osmanischen Einheiten - vielleicht auch ein
Trupp ihrer osteuropäischen Vasallen - verfügte über mehrere Katapulte, mit denen sie brennende Strohpuppen oder mit Teer getränkte Strohballen in die Stadt schleuderte.
Natürlich wußten alle, daß der eigentliche Angriff von Süden kommen mußte, gegen das Kärntnertor und die anschließenden Mauerabschnitte. Aber wenn wir die anderen Abschnitte vernachlässigt hätten, wäre möglicherweise dort trotz allem der Angriff gekommen. Also konnten wir nicht nur die Südseite der Stadt schützen; zu wenige Männer mußten zu viele Türme besetzen und zu lange Mauern bewachen.
Die Ostfront bot den Türken äußerst ungünstiges Gelände; die Wien, ein breiter Mühlgraben und das nach den elenden Regenfällen des elenden Sommers versumpfte Land ließen lediglich Geplänkel zu, aber keinen großen Aufmarsch. Ähnlich eng und naß war der Westen. Und ein Teil der Südfront schied ebenfalls aus, denn dort stand die alte Herzogsburg, über die ein Chronist schrieb, es sei »ein himmelähnliches berühmtes Schloß, mit Waffen und Zeug wohl versehen und wegen der Menge der Kanonen und Kartaunen nicht leicht durch Eroberung zu erstehen«. Folglich blieb nur der Rest der Südfront, eben der Abschnitt um das Kärntnertor. Und hier wurde Jérôme de Castelbajac für einige Tage zum Helden, nicht wegen bedeutender Heldentaten, sondern weil er - offenbar ohne Druck und freiwillig, »aus lauterer Sorge um das Abendland« - dem Grafen Salm die Absichten des Oberbefehlshabers Ibrahim Pascha mitteilte. Aber vielleicht sollte man nicht »mitteilte«, sondern »verriet« sagen. Allerdings hätte Graf Salm es auch erraten können.
Sie hatten keine mauerbrechenden Geschütze; als sie vor Jahren Belgrad eroberten, hatten sie gegraben und gesprengt.
Die Annahme, daß sie dies auch vor Wien tun würden, lag eigentlich nahe, und Castelbajac bestätigte sie.
Niemand nannte seinen Namen; es war die Rede von einem christlichen Überläufer. Es kam jedoch ein Abend der Erschöpfung und Erhellung nach und vor dem Gemetzel, und an diesem Abend erfuhr ich einiges, das ich bis dahin nur vermutet hatte.
Bis dahin gab es ein Würgen und ein Grauen, unterbrochen von der Mühsal des Schlafs neben krachenden Geschützen, zwischen brechenden Häusern, in Regen und Kälte.
Der September ging zu Ende, der elende Sommer wich übergangslos einem erbärmlichen Frühwinter. Und Graf Salm ließ uns Stollen graben, unter den Mauern rechts und links des Kärntnertors, um den türkischen Minen zu begegnen. Hacken, graben, wühlen, Erde und Gesteinstrümmer in Körben wegschaffen und an anderer Stelle auftürmen, wo sie zur Behebung der erwarteten Schäden greifbar waren. Bei alldem verstärkten die Türken ihr Geschützfeuer - zur Ablenkung und Zermürbung und als Feuerschutz für die wühlenden und grabenden Männer draußen. Die Janitscharen setzten sich wieder zwischen den Ruinen der Vorstadt fest, feuerten aus ihren Handwaffen auf alles, was sich auf der Mauer zeigte, und schickten Schwärme von Pfeilen, die den grauen Himmel verfinsterten. Alle halbe Tage wechselten sie die Schützen ab; sie hatten ja genug Männer, und die Abgelösten konnten sich auf Pferden weit ins Hinterland begeben, um vielleicht sogar ungestört vom Donner der eigenen Kanonen zu schlafen.
Bei uns dagegen wurde die Schwelgerei abwechselnden Ruhens und Kämpfens oder Grabens beendet. Zu viele, die auf den Mauern wachten, wurden verletzt oder getötet, und bald gab es nicht mehr genug Leute, um alle nötigen Aufgaben
zu erfüllen, selbst
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