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Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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Fürsten ausrichten. Eigentlich wartete ich jeden Tag auf die Nachricht, daß man die Aufstände niedergeschlagen habe.
    Von den Ursachen wußte ich nichts. Oder jedenfalls nicht viel. Daß es den Bauern überall schlecht ging, hatte ich in den vergangenen Jahren gesehen, in den Gegenden des Reichs, durch die wir geritten waren, wie auch in Polen, Rußland, Schweden, England, Frankreich … Es mochte ein Naturgesetz sein oder von Menschen bewirkt, durch ungerechte Verteilung von Macht und Reichtum, aber es hatte mich nicht berührt. Oder nicht sehr. Nach der eiligen Abreise aus Koblenz, die fast einer Flucht gleichgekommen war, hatte ich mit den Eltern und Geschwistern in jenem verlorenen Bauerndorf gelebt und alles gehaßt, was mit dem Bauernleben zusammenhing - die Feldarbeit, die stetige Beschäftigung mit Milch und Mist und Mehl … Im Dorf hatte es gute und schlechte, freundliche und unfreundliche, öde und lustige Leute gegeben. Einige hatte ich gemocht, andere verabscheut, die meisten waren mir gleichgültig gewesen. Wie immer und überall, sagte ich mir an jenem Abend bei Bingen; und was ich gehaßt hatte, war nicht dieser oder jener Mensch gewesen, sondern das bäuerliche Leben insgesamt.
Seither beschäftigte mich die Frage, warum wir überhaupt in dieses Dorf geflohen waren - und wie ich die Mörder finden konnte.
    Später am Abend, als einige der anderen Gäste sich schon schlafen gelegt hatten und wir ungestört reden konnten, wandte ich mich an Kassem.
    »Vater, weißt du mehr über diese Dinge? Die Bauern, den Grund für die Unruhen, die wahrscheinliche Dauer?«
    Er schaute in seinen Becher mit unvergorenem Traubensaft; dann blickte er auf und lächelte. »Ich will dir einige Fragen stellen«, sagte er. »Sie könnten dir helfen, die Erklärungen, die du suchst, selbst zu finden. Jedenfalls zum Teil. Was weißt du von der Art, wie Fürsten an das Geld gelangen, das sie brauchen?«
    »Steuern«, sagte ich. »Abgaben. Zoll. Maut.«
    »Wer zahlt all dies?«
    Ich hob die Schultern. »Jeder von uns, der handelt, der eine Brücke benutzt, in einen Hafen kommt, eine Grenze überschreitet.«
    Jorgo knurrte etwas Unverständliches. Als Kassem ihn anblickte, sagte er: »Um Vergebung, Herr - unfreundliche Gedanken an die tausend Grenzen in diesem Land, das ein Reich zu sein behauptet.«
    »Dies ist Teil der Schwierigkeiten.« Kassem schloß die Augen, wie er es oft tat, wenn er seine Gedanken sammelte. »Ich glaube«, sagte er dann, als er sie wieder öffnete, »mit Fragen allein kommen wir nicht weiter. Ich will versuchen, es einfach zu erklären, aber es ist nicht einfach.«
    Der Sultan, sagte er, ein beliebiger Sultan oder Fürst eines beliebigen Landes, habe zehn Berater, jeder dieser Berater habe zehn Helfer, und jeder dieser Helfer wiederum Unterhelfer. Sie alle seien damit befaßt, das Land zu verwalten, zu
ordnen, Befehle zu erteilen, entgegenzunehmen und auszuführen. Mit der Fingerspitze malte er eine Art Pyramide auf die Tischplatte.
    »Sie alle«, sagte er, »sind möglicherweise wichtig, tragen aber nichts zum Leben bei - nichts, was man anfassen, berühren kann. All das, was wir wirklich zum Leben brauchen, Brot und Obst und Schuhe und Wagen und Schiffe, wird von denen geliefert, die unter ihnen in der Pyramide sind. Ganz unten sind die Wichtigsten, die, ohne deren Arbeit wir alle hungern müßten. Die Bauern. Die Macht aber ist weiter oben, und sie ist mit dem Reichtum vermählt. Jene, die uns alle ernähren, haben keine Macht und keinen Reichtum; jene, die all das, was andere herstellen, lediglich ordnen und verwalten und verteilen, haben alle Macht und allen Reichtum - je weiter oben in der Pyramide sie sind, desto mehr von allem haben sie. Ist das gerecht, Sohn?«
    »Es ist, wie es ist«, sagte ich. »Allah hat es so eingerichtet - Allah oder andere Götter -, und wie du, Herr, mir oft gesagt hast, steht es dem Menschen nicht zu, die Anordnungen Allahs zu bezweifeln.«
    Jorgo schnaubte leise; Avram stützte das Kinn auf die gefalteten Hände und lächelte, sagte jedoch nichts.
    »Das ist richtig.« Kassem klopfte mit dem Finger auf die Spitze der Pyramide. »Wenn es richtig ist, ist es richtig - ist es aber richtig? Ist diese Pyramide Allahs Werk? Oder ist sie Menschenwerk? Die Fürsten Europas sagen, sie seien von Gott eingesetzt; aber gab es sie immer schon? Oder waren die Dinge vorher anders?«
    Ich zögerte. »Gab es nicht«, sagte ich dann, »früher andere Ordnungen? In Rom, ehe es Kaiser

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