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Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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gab, und in Griechenland?«
    »Und an anderen Orten.« Kassem nickte. »Wenn es also
früher andere Ordnungen gab, wie kommt es dann, daß heute alle Macht bei den Fürsten ist?«
    »Sie werden sich irgendwann durchgesetzt haben.«
    »Wie, Sohn meines Herzens? Wie haben sie sich durchgesetzt?«
    »Setzt sich nicht immer der Bessere durch?«
    Kassem blickte Jorgo an. »Was willst du sagen?«
    »Sieht man, daß ich etwas sagen will?«
    Kassem rümpfte die Nase. »Man riecht es sogar.«
    Jorgo grinste. »Na gut. Kleiner Bruder - im Wald sind zehn Räuber. Im Rudel sind zehn Wölfe. Wer wird Führer des Rudels - wer wird Räuberhauptmann? Du sagst, der Bessere setzt sich durch, aber was heißt das? Wer ist gut, wer ist besser?«
    »Der Klügste?«
    »Wenn Philosophen klüger sind als Nachtwächter, warum dürfen Nachtwächter den Philosophen dann befehlen, nach Sonnenuntergang heimzugehen?«
    »Weil man ihnen die Macht gegeben hat.«
    »Ah. Und mit der Macht sind sie - was?«
    »Stärker?«
    Avram klopfte mir auf die Schulter. »Wir nähern uns«, sagte er. »Warum ist einer Herr und ein anderer Knecht?«
    »Weil er stärker ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Jorgo, du und ich - zusammen sind wir stärker als unser Herr Kassem, aber er ist unser Herr.«
    Heute erscheint es mir unglaublich, daß ich bis zu jenem Abend nie ernsthaft über diese Dinge nachgedacht hatte. Oder nein, nicht unglaublich, aber seltsam. Glaubhaft ist es durchaus; ich hatte die Eltern verloren, war mit Kassem und den anderen gereist, hatte überall Mächtige und Ohnmächtige gesehen und keinerlei Anlaß gehabt, an dieser Ordnung
der Dinge zu zweifeln. Keinen Anlaß und auch keine Zeit; denn wie ich heute weiß oder zu wissen glaube, sind wir - nicht alle, aber die meisten, mich eingeschlossen - zu träge und zu sehr mit anderem beschäftigt, um tiefe Gedanken zu denken. Wer von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang hart arbeiten muß, um zu essen, hat keine Zeit, an etwas anderes als die Arbeit und das Essen und jene zu denken, deren Überleben von seiner Arbeit abhängt. Äußerste Not kann Gedanken zeugen. Muße kann Gedanken zeugen. Das Gefühl, von einem Gott oder vom Schicksal auserwählt zu sein, kann Gedanken zeugen. Wer wird ein Haus, in dem er immer gelebt hat, umbauen wollen, wenn er gar nicht weiß, daß es andere Formen von Häusern gibt und daß man Häuser umbauen kann? Wer wird ein Leben ändern, Umstände verändern wollen, wenn er nicht weiß oder wenigstens ahnt, daß ein anderes Leben möglich ist? Der Junge, an den ich mich mühsam erinnere, hat wahrscheinlich dumpf empfunden, daß etwas anderes möglich sein sollte, doch wußte er bis zu jenem Abend nicht, was.
    »Räuber«, sagte Jorgo. »Der Gemeinste, Tückischste, Stärkste, Rücksichtsloseste wird Hauptmann; vielleicht ist er auch der Klügste. Irgendwann ist er nicht nur Fürst der Räuberbande im Wald, sondern er dehnt sein Reich auf die angrenzenden Felder aus. Und eines Tages wird er König, und weil niemand wissen darf, daß er durch Tücke und Gewalt so hoch gestiegen ist, sagt er den anderen, Gott habe ihn erhoben.«
    Ich fühlte mich verloren und zugleich erregt, im Besitz eines gewaltigen, unerforschten Landes. »Und du, Vater?« sagte ich.
    Kassem lächelte. »Die Räuber richten alles so ein, daß es so bleibt, wie sie es gern hätten. Vielleicht bin ich kein Räuber,
aber meine Vorfahren waren Räuber, und weil alles so geordnet ist, daß der oberste Räuber an der Spitze bleibt, stehe ich irgendwo im oberen Teil der Pyramide, und ihr steht unter mir. Macht und Reichtum gibt es nur oben; deshalb werdet ihr, wenn ihr euch von mir befreit habt, nicht versuchen, die Pyramide einzureißen, sondern nur, in ihr aufzusteigen.«
    Wir stritten eine Weile darüber, erwogen Begriffe wie Klugheit und Verdienst und Weisheit und die Möglichkeit, vom Räuber zum Bürger, vom Wolf zum Lamm zu werden.
    »Bürger sind Wölfe«, sagte Avram plötzlich. »Wer oben ist, kann dies nur sein, weil er die unter ihm beherrscht. Der Räuber an der Spitze saugt denen unter ihm das Blut aus, und auch die zweitunterste Stufe der Pyramide besteht aus Blutsaugern. Jeder saugt die unter ihm aus und wird von denen oberhalb ausgesaugt. Und die unterste Schicht ist in diesen Landen der Bauer.«
    So erfuhr ich, daß in den meisten Fürstentümern des Reichs die Bauern dem jeweiligen Grundherrn gehörten, ihm Frondienste leisten mußten, ohne seine Erlaubnis nicht heiraten oder an

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