Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
Vom Netzwerk:
einen anderen Ort gehen durften. Sie hatten dem Grundherrn und dem nächsten Kloster - wenn diese nicht dasselbe waren - Teile der Ernte abzugeben, zusätzlich zur Fron auch noch Hand- und Spanndienste zu leisten. Man erwartete, daß mindestens eines der Kinder des Bauern für den weltlichen oder geistlichen Herrn arbeitete, und insgesamt sei es, sagte Kassem, durchaus nicht unüblich, daß neun Zehntel der gesamten Einkünfte des Bauern an den Herrn und das Kloster und die Stadt und das Land flössen. Die unterste Schicht der Pyramide. Die Schicht, die alles andere trug und ernährte und sozusagen keine Rechte hatte, denn wenn ein Bauer sich beschweren wolle, müsse er dies vor einem
Gericht tun, in dem ebenjene Herren säßen, gegen die er zu klagen wünsche.
    Kassem sagte noch einige andere Sätze, über die ich in der folgenden Zeit lange und gründlich nachdenken mußte und konnte. Ich mußte, um sie zu begreifen und ihre Tragweite zu erfassen; und ich konnte, weil wir immer wieder kleine Strecken zurücklegten, ohne wirklich voranzukommen, so daß wir viel Zeit - leere Zeit - in Gasthäusern verbrachten.
    Leere Zeit, ja, aber hohl war sie nicht. Zumindest für mich war sie inwendig gestriemt von Gedanken, Erinnerungen, Versuchen des Erinnerns, Berechnungen dessen, was künftige Erinnerungen sein könnten. Ich rief mir Einzelheiten ins Gedächtnis: Dinge, die ich im Dorf gesehen und gehört hatte, Arbeitsgänge, halb vernommene und damals gar nicht verstandene Klagen: das Leben der Bauern.
    Erstmals begriff ich, daß etwas, was ich als Behelligung meines Vaters angesehen hatte, eine andere Seite besaß. Immer wieder waren Leute aus dem Dorf zu uns gekommen, um sich von meinem Vater Schreiben ausfertigen zu lassen. Wie die Schwestern - der Bruder war noch zu klein - hatte ich selbstverständlich lesen, schreiben und rechnen gelernt, von den Eltern; selbstverständlich hatte ich es anfangs als lästig empfunden und mich später über die Bauern erhaben gefühlt, denen Zeichen und Ziffern eine geheime, unzugängliche Kunst waren, beinahe Magie. Erst jetzt begriff ich, daß ihre Unkenntnis nicht eigenes Verschulden war.
    Sondern über Jahrhunderte absichtlich bewirkte Ohnmacht. Für die Herren ist es nicht erstrebenswert, den Knechten Wissen zu vermitteln. Statt das Wort der Herren und der Priester gleichsam als Wort Gottes hinzunehmen, könnten lesende Knechte andere Worte suchen und lesen, am Ende gar eigene Worte finden und aufhören wollen,
Knecht zu sein. Ich begriff, welchen Reichtum die von den Eltern vermittelten Kenntnisse bedeuteten, und begann mich meiner gedankenlosen Trägheit zu schämen.
    Aber selbst wenn sie hätten lesen können … Wer soll denn lesen und schreiben lernen, wenn er sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Äckern und in den Ställen plagen muß, nur um Abgaben leisten und vom Rest eher schlecht als recht essen zu können? Keine Zeit zum Lernen. Und selbst wenn, dann gäbe es keine Zeit, das Gelernte zu nutzen, zu lesen. Und selbst wenn sie hätten lesen können, was hätten sie lesen sollen? Das einzige Buch war die Heilige Schrift, und deren Sprache war Latein; so waren sie selbst für das Wort Gottes auf die Vermittlung der geistlichen Herren angewiesen, deren Anliegen keineswegs sein konnte, die eigene Bedeutung und Macht zu mindern, indem sie die Schafe ihrer Herde mündig machten. Diese würden sich dann vielleicht nicht mehr treiben, scheren und schlachten lassen wollen.
    In vielen Teilen des Reichs hatten sich die Schafe nun trotz allem erhoben, waren aufgestanden gegen ihre weltlichen und geistlichen Herren. Zu Beginn des Winters gab es kaum noch sichere Straßen. Bauernhaufen - die einen redeten von Horden, die anderen von Heeren - beherrschten weite Landstriche; die Gerüchte sprachen von belagerten Städten, geplünderten Klöstern und niedergebrannten Schlössern. Die Gegenwehr der Herren war zu erwarten, ließ aber auf sich warten, denn da Frankreichs König François wieder einmal beschlossen hatte, die Lombardei, sein Geburtsland, vom Reich zurückzuerobern, hatten die Fürsten auf Geheiß des Kaisers Landsknechte geworben und über die Alpen geschickt; Soldaten, die nun zu Hause fehlten.

     
    Ohne meine Gedanken und ihre Wirrnis wirklich wiedergeben zu können, habe ich ihnen auf diesen Blättern zuviel Zeit und zu viele Wörter gewidmet. Ich will nun sozusagen mitten in den Winter springen und bei den Taten und Vorgängen bleiben; die Gedanken werden sich

Weitere Kostenlose Bücher