Die Rache des Samurai
noch drei Tagen hätten diese Männer Sano mit kriecherischer Unterwürfigkeit behandelt. Sano staunte, wie schnell die Nachricht von seinem Niedergang sich offenbar selbst in den unteren Rängen des bakufu verbreitet hatte.
»Ich muß mit Hauptmann Chūgo Gichin reden«, erklärte er.
Zornig musterten die Wächter Sano von oben bis unten, wobei sie auf ihn zugingen, bis er gezwungen war, sich zurück in Richtung Tor zu bewegen.
»Es geht um eine Sache von entscheidender Wichtigkeit für die Sicherheit des Palasts«, fügte Sano mit Nachdruck hinzu.
Die beiden Wächter blieben stehen, tauschten Blicke und zuckten die Schultern. »Kommt mit mir«, sagte der Wortführer.
Sano schickte ein stummes Dankgebet zum Himmel, daß es Untergebene gab, die es vorzogen, die Verantwortung auf den Schultern ihrer Vorgesetzten abzuladen. Im Schatten des Wachmannes ging Sano den Weg, den Hauptmann Chūgo genommen hatte und der ihn zu einer großen Hütte in einer Ecke des Platzes führte; über der Hütte ragte ein schlanker Wachturm auf. Sano wappnete sich. Er hoffte, sein plötzliches Erscheinen würde den Hauptmann zu einer verräterischen Äußerung veranlassen. Doch als Sano die Befehlsstelle betrat, legte der Wächter ihm einen Arm vor die Brust und hielt ihn auf.
»Wartet«, befahl er.
Das Vorzimmer der Befehlsstelle war kahl und besaß einen irdenen Fußboden. Durch eine offene Tür im hinteren Teil konnte man in die Schreibstube des Hauptmanns blicken, die mit einem Schreibpult, Schränken, Truhen, Teilen von Rüstungen und Waffen ausgestattet war. Die Wände waren mit Dienstplänen und Karten des Palasts bedeckt. Unwillkürlich richtete Sano seine Aufmerksamkeit auf die Mitte des Zimmers, wo Chūgo Gichin auf einer Strohmatte kniete, mit dem Profil zur Tür, die geballten Fäuste in die Hüften gestemmt. Den Helm und die Rüstung hatte er abgelegt; sein Kopf war jetzt vollständig von einer schwarzen Kapuze bedeckt. Ein Diener stellte vier lebensgroße Strohpuppen um Chūgo herum auf. Als der Mann fertig war, kam er zu Sano und stellte sich neben ihn und den Wächter an die Tür. Schweigen gebietend legte er einen Finger auf die Lippen. Sano nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte; dann richtete er den Blick wieder auf Chūgo. Sein Magen verkrampfte sich vor gespannter Erwartung: Nun würde er eine Demonstration der phantastischen Waffenkunst Chūgos erleben, die ihm im ganzen Land Ruhm eingebracht hatte: iaijutsu , die Kunst, ein Schwert zu ziehen und aus der Bewegung heraus einen Schlag zu führen.
Chūgo saß vollkommen regungslos da; er schien nicht zu atmen. Doch Sano spürte die geistige Energie, die Chūgo verströmte, als der Hauptmann, durch die Kapuze geblendet, mit seinem geübten Wahrnehmungsvermögen erspürte, wo die Strohpuppen standen. Als Sano gespannt darauf wartete, daß Chūgo sein Schwert zog, fragte er sich, was die perfekte Beherrschung des iaijutsu über den Hauptmann aussagte.
Iaijutsu war eine Übung, die sich besonders für Friedenszeiten eignete, wenn die Samurai ihre Schwerter in den Scheiden behielten, statt sie auf dem Schlachtfeld zu schwingen. Die iaijutsu -Techniken konnten zur Verteidigung benützt werden; sie konnten aber auch dazu eingesetzt werden, daß man bei einem Zweikampf sofort die Oberhand gewann. Doch nur die angesehenen kenjutsu- Meister bildeten ihre Schüler im iaijutsu aus, denn gerade diese Kampftechnik konnte zu unehrenhaften Zwecken mißbraucht werden. Zu oft wurde die iaijutsu -Techniken gegen unachtsame Gegner oder unbewaffnete Bürger eingesetzt. Viele Bauern und Gemeine wurden von Samurai nur deshalb getötet, weil sie ein neues Schwert ausprobieren wollten; ein ungeschriebenes Gesetz erlaubte den Samurai solche »Übungen«, wobei sie als Bestrafung allenfalls mit einem Tadel rechnen mußten.
Hatte Chūgo seine tödlichen Fähigkeiten dazu benützt, Kaibara Tōju, den rōnin Tōzawa und den Eta zu enthaupten, bevor sie die Gefahr auch nur geahnt hatten? Deutete die Tatsache, daß Chūgo die Kampfart des iaijutsu bis zur Perfektion ausbildete, darauf hin, daß der Wunsch in ihm schlummerte, hilflose oder ahnungslose Opfer anzugreifen? Eines wußte Sano: Die äußerste Hingabe an die Waffenkünste war häufig ein Zeichen dafür, daß der Betreffende vom bushidō besessen war, zu dessen Regeln auch die tiefe Verehrung der Ahnen zählte. Hatte der Kodex des bushidō den Hauptmann zu den Morden getrieben?
In einer einzigen fließenden Bewegung sprang
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