Die Rache des Samurai
Wesen dieses Mannes erkannt: Matsui war verwegen, rücksichtslos und auf überhebliche Weise von sich eingenommen. Eine solche Selbsteinschätzung konnte einem Mann leicht das Gefühl der Unbesiegbarkeit verleihen. Daß Matsuis Angestellte und Verbündete aussagen würden, er sei ein Mann von lauterem Charakter, und daß seine Leibwächter bestätigen würden, ihr Herr und Gebieter habe sich in den Mordnächten in seinem Haus aufgehalten, konnte Sano nicht von der Unschuld des Kaufmannes überzeugen. All diese Leute standen bei Matsui in Lohn und Brot.
Überdies war der Kaufmann viel zu gerissen, als daß er in seinem Haus oder einem seiner Läden belastende Beweisstücke aufbewahren würde. Sano überlegte, ob er vielleicht Matsuis Feinde dazu bringen konnte, den entlastenden Aussagen der Untergebenen und Freunde des Kaufmanns zu widersprechen, doch was brachte ihm das? Sano bezweifelte, daß er das Alibi Matsuis sprengen konnte. Und falls die Leibwächter sich gar an den Morden beteiligt hatten, würden sie ohnehin lügen, um sich selbst zu schützen.
Deshalb war das Gespräch mit Hauptmann Chūgo Gichin um so wichtiger. Denn entweder würde sich zeigen, daß ein größerer Verdacht auf Chūgo fiel als auf Matsui, oder Chūgo schied als Täter aus, so daß Sano mehr Zeit bekam, die Nachforschungen über Matsui zu vertiefen. Den Gedanken, daß Kammerherr Yanagisawa der Mörder sein könnte, verdrängte Sano; falls dies der Fall war, würde es auch für Sano den Untergang bedeuten. Zum erstenmal verschloß er den Geist vor der Stimme seines Vaters, die ihn drängen würde, auch diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen – eine Möglichkeit, an die Sano gar nicht erst denken wollte.
Im Inneren des Schlosses angelangt, betrat Sano den Bereich der Hauptwache, wo sich tausend Samurai auf dem riesigen, von Steinmauern umschlossenen Hof aufhielten, über den der hohe Burgfried seinen Schatten warf. Einige Samurai waren beritten, andere zu Fuß; alle trugen Schwerter und Waffenröcke. Die langen Holzhütten am Rande des Platzes waren Arsenale für Schwerter, Speere, Streitäxte, Arkebusen, Kanonen und Munition. Hier schlug das mächtige Herz des Militärregimes der Tokugawa – und mitten hindurch schritt Chūgo Gichin, wie ein Herrscher, der sein Reich inspiziert.
Von drei Leutnants begleitet, war nur Chūgo in volle Schlachtrüstung gekleidet. Er trug einen schwarzen Helm aus Metall mit breiten Seitenklappen; die Helmzier bildete ein Paar Kiefernzweige aus Gold. Ein kunstvoller Waffenrock aus Metallplatten, die mit roten und goldenen Seidenbändern verschnürt waren, hing von seinen kräftigen, geraden Schultern; dazu trug er Armschützer aus Kettengeflecht. Den Saum seines Kimonos hatte er unter schimmernde Schienbeinschützer aus Metall gesteckt; seine Beine waren lang und so gerade wie Holzpfeiler. Die aufrechte, straffe Körperhaltung hob die dünnen Muskeln hervor. Doch während der hagere, sehnige Mann seine Inspektionsrunde machte, trug er das Gewicht seiner Rüstung ohne sichtliche Anstrengung. Seine scharfe Stimme, mit der er Befehle oder Fragen in die Reihen der Krieger brüllte, hallte über das Stampfen von Füßen, Hufschläge und gedämpfte Gespräche hinweg.
Sano beobachtete den Hauptmann der Wache und versuchte erfolglos, ihn sich als Mörder vorzustellen. Die Familie dieses Mannes hatte den Tokugawa seit Generationen treu gedient. Und Chūgo, der eine Zeitlang sogar in der Kriegsflotte gedient hatte, hatte sich in der militärischen Rangordnung hochgearbeitet. Nun war er – im ständigen Wechsel mit anderen Hauptleuten – für die Sicherheit im Palast verantwortlich. Seine Aufgabe bestand darin, den Shōgun, dessen Familie und die Vielzahl von Beamten, Gefolgsleuten und Dienern zu schützen und Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Wie konnte Chūgo da jener Mann sein, der vier Menschen getötet und die Stadt in Aufruhr gestürzt hatte?
Chūgo wandte sich in Richtung seiner Befehlsstelle und schritt an den Hütten vorüber, in denen die Rüstungen untergebracht waren und deren rote Vorhänge sein Wappen trugen: ein weißes Achteck, in dessen Mitte sich die Mondsichel der Fujiwara befand.
Sano stieg vom Pferd und ging Chūgo hinterher. Er hatte kaum zehn Schritte getan, als zwei Wächter ihm in den Weg traten.
»Können wir Euch behilflich sein, sōsakan-sama? « fragte der eine. Seiner freundlichen Stimme und der höflichen Verbeugung haftete der Beiklang herausfordernder Dreistigkeit an. Vor
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