Die Rache des Samurai
Hauptmann. Er schaute zu, als Chūgo die Nadeln umsteckte wie ein General, der einen Schlachtplan entwarf. Obwohl die Gefahr einer Belagerung des Palastes so gut wie ausgeschlossen war, war Chūgo voller Hingabe bei der Sache.
»Nun?« fragte er.
Sano versuchte noch immer, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Schließlich sagte er: »Ihr wißt wahrscheinlich, daß der Shōgun mich mit der Aufgabe betraut hat, den bundori- Mörder zu fangen.«
»Ach?«
Offenbar ohne jedes Interesse an dieser Angelegenheit, verließ Chūgo seine Befehlsstelle und wandte sich an seine Leutnants. »Im östlichen Bereich ist die Deckung der Vorpostenlinie zu schwach«, hörte Sano ihn sagen. »Schickt sofort eine weitere Einheit dorthin.«
Dann kam er zurück in die Schreibstube, um die Dienstpläne aufmerksam durchzulesen. Seine Bewegungen besaßen etwas Ruckhaftes, Ungeduldiges, das in seltsamem Kontrast zu dem anmutigen, fließenden tödlichen Tanz seiner Schwertübung stand. In die Dienstpläne vertieft, schien es ihn nicht zu interessieren, ob Sano den Grund für seinen Besuch vorbrachte.
»Die Schildchen an den Köpfen der Mordopfer trugen die Namen Araki Yojiemon und Endō Munetsugu«, sagte Sano. »Zwei Männer, die eine Fehde mit Eurem Ahnherrn hatten – General Fujiwara.«
Die Hand des Hauptmanns blieb ruhig, als er mit dem Finger die Reihe der Namen auf dem Dienstplan entlangfuhr. Mißmutig preßte er die Lippen zusammen, doch er war weder erstaunt noch erschreckt. »Ja, und?«
Sano versuchte, die Gedanken hinter Chūgos dunklen Augen zu lesen. Falls der Hauptmann der bundori- Mörder war, zeigte er keine Furcht vor Enttarnung. Andererseits hatte Chūgo sich als Meister der Waffenkunst auch darin geübt, alle Anzeichen von Gefühlen zu verbergen.
»General Fujiwara hegte irgendeinen Groll gegen Araki und Endō«, fuhr Sano fort. »Er setzte sein Leben aufs Spiel, um die beiden zu vernichten. Wer auch immer Kaibara Tōju, den rōnin Tōzawa, den Mönch Endō und den Eta getötet hat, scheint die alte Fehde wiederbelebt zu haben, indem er die Nachfahren Arakis und Endōs angegriffen hat. Ich glaube, der Mörder ist ein Nachkomme General Fujiwaras, der es darauf anlegt, eine alte Blutschuld zu begleichen.«
»Pah!« In Chūgos verächtlichem Schnauben lag Verachtung, die auf seinem Gesicht jedoch nicht zu erkennen war. Bevor Sano etwas erwidern konnte, kam Chūgos Diener mit einem Kasten aus Lackarbeit in die Schreibstube.
»Eure Mahlzeit, ehrenwerter Hauptmann.«
»Stell sie hierher.« Chūgo kniete sich auf die Matte und wies auf den Fußboden vor sich. Es war warm in der Schreibstube; der Hauptmann öffnete seinen Kimono und rollte die Ärmel auf. Auf Brust und Armen waren keine Narben zu sehen; falls er der Mörder war, hatte er beim Zweikampf mit Bruder Endō entweder den Speerstichen des Mönchs ausweichen können, oder er hatte eine Rüstung getragen. Oder er hatte gar nicht mit Endō gekämpft, weil er nicht der Täter war.
»Falls Ihr mich fragen wollt, ob ich ein Mörder bin«, sagte der Hauptmann, zu Sano gewandt, »lautet die Antwort nein. Und meine Ahnen gehen Euch nichts an. Überdies ist die Vergangenheit tot.«
Wirklich? hätte Sano am liebsten gefragt, während Chūgo das Essenskästchen öffnete. »Getrocknete Kastanien, Seetang und Ohrschnecken«, bemerkte Sano, als Chūgo die Nahrungsmittel nacheinander hervornahm. »Eßt Ihr immer Speisen, wie Soldaten sie vor einer Schlacht zu sich nehmen?« Vielleicht war Chūgo der Vergangenheit gegenüber gar nicht so gleichgültig, wie er vorgab. Mit Kriegsritualen war er mit Sicherheit vertraut.
Chūgo zuckte die Achseln. Er aß wie ein Mann, dem es nur darum ging, seinem Körper Nährstoffe zuzuführen: ohne jeden Genuß verzehrte der Hauptmann seine Mahlzeit und spülte jeden Bissen mit einem Schluck Sake aus einer zerbeulten Reiseflasche aus Blech hinunter. »Ich esse, was mir schmeckt.«
Da es offenbar keinen Sinn hatte, bei diesem Mann eine vorsichtige Taktik einzuschlagen, versuchte Sano es mit einer direkten Frage. »Wenn Ihr nicht der bundori- Mörder seid, wo wart Ihr dann gestern nacht?«
»Auch das geht Euch nichts an. Aber ich werde es Euch trotzdem sagen. Ich war hier. Im Palast. Wie schon die letzten fünfzehn Tage. Ich verlasse niemals meinen Posten, wenn ich der diensthabende Offizier bin. Jeder meiner Männer kann es Euch bestätigen.«
Sano warf einen schmerzerfüllten Blick an die Decke. Schon wieder ein Alibi. Ebenso fragwürdig
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