Die Rache des Samurai
Chūgo auf und riß das Schwert aus der Scheide. In einem silbernen Bogen flirrte die Klinge seitlich durch die Luft und trennte der ersten Strohpuppe den Kopf vom Rumpf. Ohne in der Bewegung innezuhalten, wirbelte Chūgo herum, enthauptete die zweite Strohpuppe, die dritte, und noch bevor der erste Kopf auf den Boden prallte, hatte Chūgo alle vier Strohpuppen enthauptet.
Sano verschlug es den Atem angesichts der Schönheit und Genauigkeit von Chūgos Bewegungen. Dann aber loderte die Vorahnung tödlicher Gefahr wie eine heiße Flamme in seinem Inneren auf. Unwillkürlich schrie er auf und sprang zurück. Obwohl es untersagt war, innerhalb des Palastgeländes die Waffe gegen einen anderen zu richten, zuckte seine Hand instinktiv zum Schwertgriff.
Denn Chūgo stürmte genau auf ihn zu. Und statt das Schwert zurück in die Scheide zu schieben und wieder auf der Matte niederzuknien, riß er die Waffe mit beiden Händen empor, um einen tödlichen Schlag von oben zu führen.
Sano hatte sein Schwert aus der Scheide gerissen, um den Hieb zu parieren. Dann, im letzten Augenblick, erkannten der Wächter und Chūgos Diener, was vor sich ging »Nein, Chugo -san ! Haltet ein!«
Die Männer packten Chūgos Arme und hielten seinen Angriff auf. Chūgo erstarrte. Sein Schwert hielt er noch immer über den Kopf erhoben; es verharrte am höchsten Punkt des tödlichen Bogens.
Auch Sano erstarrte. Dann schob er sein Schwert langsam in die Scheide zurück, als er sah, wie Chūgos Körper sich entspannte und spürte, wie das mörderische Verlangen des Hauptmanns verebbte. Mit wild klopfendem Herzen, immer noch bebend vor Kampfbereitschaft, beobachtete Sano, wie Chūgo sich aus dem Griff seiner Männer befreite. Erleichtert stieß Sano den Atem aus, als Chūgos sein Schwert bedächtig in die Scheide schob. Dann streifte er sich die Kapuze vom Kopf.
» Sōsakan-sama .«
Chūgo sprach mit schroffer, monotoner Stimme, die weder Erstaunen noch Interesse erkennen ließ. Das lange Gesicht des Hauptmanns paßte zu seinem schlanken, langgliedrigen Körper. Über der Wurzel seiner dünnen Nase spannten sich dichte, gerade Brauen. Seine schmalen Augen – dunkel, durchdringend und so starr, daß sie beinahe wie tot wirkten – lagen in tiefen, fast rechteckigen Höhlen über den scharf hervortretenden Wangenknochen. Von den Nasenlöchern bis zum dünnen, schmallippigen Mund spannten sich senkrechte, ausgeprägte Falten; das Kinn war spitz, der Kiefer kantig. Nur ein Merkmal störte die geometrisch-regelmäßige Struktur dieses Gesichts: die runzelige, schlangenförmige Narbe, die sich über seinen rasierten Scheitel zog.
Chūgos totenstarrer Blick erfaßte Sano und die beiden anderen Männer, als er sagte: »Wir werden kein Wort über dieses Versehen reden.«
Offensichtlich meinte er damit, daß niemand von dem Vorfall erzählen sollte, so daß weder er noch Sano die Strafe auf sich nehmen mußten, die das Gesetz vorschrieb, wenn jemand im Palast eine Waffe zog: die Selbsttötung. Sano, noch immer zutiefst erschüttert von dem gewalttätigen Ausbruch Chūgos, brachte lediglich ein Nicken zustande. Er versuchte verzweifelt, dieselbe stoische Ruhe zu zeigen wie Chūgo und die wirbelnden Gedanken zu ordnen, die ihm durch den Kopf schossen.
Wenngleich durch die Kapuze geblendet, hatte Chūgo die vier Strohpuppen enthauptet – in so kurzer Zeit, daß ein gewöhnlicher Schwertkämpfer gerade seine Waffe hätte ziehen und Kampfstellung einnehmen können. Doch abgesehen von Chūgos Fähigkeiten in der Schwertkunst hatte Sano nun einen weiteren Grund zu der Annahme, daß dieser Mann imstande gewesen wäre, im Dunkel der Nacht vier Opfer zu enthaupten.
Chūgo hatte ihn töten wollen. Sano wußte es mit vollkommener Gewißheit, auch wenn der Hauptmann von einem »Versehen« gesprochen hatte. Hatte Chūgo auf die bloße, unbestimmte Gefahr hin angegriffen, daß ein Fremder bei ihm erschienen war? Oder hatte er zum tödlichen Schlag ausgeholt, weil er Sano instinktiv als den Mann erkannte, der ihn als bundori -Mörder identifizieren konnte?
»Die Übung ist zu Ende. Schaff die Strohpuppen fort«, befahl Chūgo seinem Diener. Dann wandte er sich Sano zu. »Was wollt Ihr?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er den Wachmann fort, der Sano zur Befehlsstelle geführt hatte, und betrat seine Schreibstube. Er betrachtete die Karten des riesigen Palastgeländes, in denen farbige Nadeln steckten, welche anzeigten, wo Truppenteile lagen. Sano folgte dem
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