Die Rache des Samurai
solange es uns vergönnt ist.
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O
-tama, General Fujiwaras weiblicher Nachkomme und die letzte Person auf Sanos Liste der Verdächtigen, wohnte im Stadtviertel Hibiya im Süden des Palastes. Aus seiner Zeit als Polizei-Bezirksvorsteher kannte Sano sich in dieser Gegend gut aus, doch nun, am Morgen nach der gemeinsamen Nacht mit Aoi, ritt er durch die vertrauten Straßen wie durch eine neu erschaffene Welt.
Nachdem er Aoi erlaubt hatte, ihm bei den Nachforschungen zu helfen, hatte sie weitere Heilmittel bereitet und Sanos Wunden behandelt. Dann hatten sie sich über ihre Familien unterhalten, über ihre Kindheit, ihre Ausbildung, welches Essen sie bevorzugten, welche Art von Unterhaltung, welche Menschen, welche Orte – Dinge, die frisch Verliebte sich gern erzählen. Während Sano auf dem Futon lag, die Wunden mit lindernden Kräutern und Salben bedeckt, von sich selbst erzählte und dann Aoi lauschte, waren die Bande zwischen ihm und der Ninja noch stärker geworden. Sano hatte es um so deutlicher empfunden, als er erwachte und Aoi fort war, während die Sonne durchs Fenster schien. Schon in diesem Augenblick hatte er den Abend herbeigesehnt, wenn sie sich wieder treffen würden.
Und nun, als Sano die nächste Etappe seiner Nachforschungen in Angriff nahm, erkannte er, was Aoi ihm alles gegeben hatte: nicht nur Zärtlichkeit, Liebe und die Hoffnung, mit ihrer Hilfe den Fall doch noch zu lösen. Vor allem verdankte er ihr sein Leben und seine Gesundheit. Aois geschickte Behandlung hatte die Schmerzen erheblich gelindert; seine Wunden pochten nicht mehr, und die Benommenheit war verschwunden. Er hatte mit gesundem Appetit gefrühstückt und konnte beinahe schmerzfrei gehen und reiten. Doch selbst dieses Wunder war nichts im Vergleich zu seinem unglaublichen Stimmungswandel.
Zum erstenmal erlebte Sano das berauschende Gefühl der Macht, das die Liebe hervorbringt. Ein gedankenverlorenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Stadt nun mit ganz anderen Augen sah. Die wimmelnden Straßen gehörten ihm und die Häuser, die Läden, die Villen und der Palast, die fernen grünen Hügel, der träge braune Fluß und der endlose blaue Himmel. Der warme Sonnenschein, die rasch dahintreibenden Wolken, der frische, böige Wind und die blühenden Kirschbäume – dies alles spiegelte den neuen Frühling in seiner Seele wider. Seine Ängste und Zweifel waren beinahe von ihm gewichen; sie umhüllten seinen Verstand nicht mehr wie dichter Nebel, sondern waren nur noch wie der dünne, feine Rauchschleier, der über Nihonbashi hing, wo ein kleineres Feuer, das offenbar letzte Nacht ausgebrochen war, immer noch brannte.
Sano hatte das Gefühl, die Welt nach seinem Wunsch und Willen formen zu können. Jetzt war er sicher, die Nachforschungen erfolgreich zu beenden und Edo vom Schrecken des bundori -Mörders zu befreien. Er würde Yanagisawa entlasten und die Schuld Matsuis oder Chūgos oder O-tamas beweisen – jener Frau, zu der er nun unterwegs war. Er würde das Versprechen einlösen, das er seinem Vater gegeben hatte. Und er würde eine Möglichkeit finden, daß er und Aoi zusammensein konnten, trotz ihrer gegensätzlichen Treuepflichten.
Sein Glück hatte sich bereits gewendet. An diesem Morgen hatte er eine Nachricht von Hirata erhalten:
Matsui ist gestern abend sofort nach Hause gegangen. Aber ich habe eine neue Spur. Kommt heute mittag bitte zum Eingang der Polizeikasernen, dort warte ich auf Euch.
Als Sano sich seinem Ziel näherte, schob er die Gedanken an Aoi und die gespannte Frage nach Hiratas Entdeckung beiseite, während seine Neugier sich regte, was seine letzte Verdächtige betraf: O-tama. Sie war einst eine yuna gewesen, eine Kurtisane in einem der vielen Badehäuser Edos, in denen die Prostitution blühte, obgleich die Gesetze das Geschäft mit der käuflichen Liebe nur im Vergnügungsviertel Yoshiwara erlaubten. O-tama war die berühmteste Schönheit im Badehaus ›Wasserlilie‹ gewesen, das für seine wundervollen Frauen und die namhaften Kunden bekannt war. Überdies hatte O-tama im Mittelpunkt eines gewaltigen Skandals gestanden, der Edo vor zehn Jahren erschüttert hatte.
Die damals achtzehnjährige O-tama war zum Gegenstand männlicher Besessenheit geworden; ihre Liebschaften mit zahllosen Kaufleuten, Samurai und Priestern wurden in volkstümlichen Liedern besungen. Ein reifes, aber zierliches Mädchen mit keckem Lächeln, hatte O-tama den Gipfel ihrer Berühmtheit erklommen, als sie ein
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