Die Rache des Samurai
Objektivität willen. Denn er brauchte ein Motiv für die Verbrechen.
»Weil Araki und Endō ohne Zustimmung ihres Fürsten gehandelt hatten. Sie wollten nicht, daß die Nachricht von der Verschwörung dazu führte, daß die Gefolgsleute Odas sich gegen Hideyoshi und Ieyasu erhoben. Akechi sollte die Alleinschuld tragen. Und das tat er auch. Er wurde bestraft – Araki und Endō hingegen nicht. General Fujiwara erfuhr von der Verschwörung und schwor Rache, doch sie blieb ihm versagt. Nun hat sich einer seiner Nachkommen darangemacht, diese Blutschuld einzufordern. Chūgo? Matsui? Vielleicht. Doch nur Kammerherr Yanagisawa ist ein direkter Nachkomme des ältesten Sohnes von General Fujiwara. Er würde die Hauptverantwortung tragen, wenn es darum ginge, den Wunsch unseres Ahnherrn nach Rache zu erfüllen.«
Sanos anfänglicher Optimismus wurde von einer Woge eisigen Entsetzens davongeschwemmt. Der Mord am Herrn eines Samurai war das schlimmste aller Verbrechen – und eine Blutschuld, die tatsächlich von einer Generation auf die andere vererbt werden konnte. O-tamas Geschichte, die von historischen Indizien gestützt wurde, erklärte überdies das seltsame Verhalten General Fujiwaras – wie auch die Morde. Und sie machte Yanagisawa wieder zum Hauptverdächtigen.
»Diese Geschichte kann nicht wahr sein!« rief Sano voller Verzweiflung.
»Im Grunde spielt es gar keine Rolle, nicht wahr, sōsakan-sama? Es zählt nur eines: Daß jemand – der Mörder – diese Geschichte für wahr hält.«
Ein Streitgespräch war sinnlos, also versuchte Sano, die Glaubwürdigkeit O-tamas in Frage zu stellen. »Warum habt Ihr Euer Schweigen gebrochen und mir ein Geheimnis anvertraut, das so viele Jahre bewahrt wurde? Warum habt Ihr mir Beweise in die Hand gegeben, die Eure Vettern in Gefahr bringen?«
Seidene Kleidung raschelte, als sich die schattenhafte Gestalt hinter dem Schirm bewegte. »Ihr werdet es gewiß als erschreckend und abstoßend betrachten, sōsakan-sama , aber ich liebe meine Familie nicht.« Bitterkeit trübte den melodischen Klang ihrer Stimme. »Ihre Probleme sind nicht die meinen. Das Samurai-Erbe, das mich und meine Vettern verbindet, interessiert mich nicht. Und ich werde Euch sagen, warum.«
Und O-tama erzählte Sano die Familiengeschichte der Fujiwara. Sano erfuhr von der Rivalität, die nach dem Tod des Generals zwischen seinen Söhnen entstanden war, und von dem Auf- und Abstieg, den die verschiedenen Zweige der Familie im Laufe der Jahre erlebt hatten. Sano erkannte, daß das Schicksal es mit O-tamas Familienzweig längst nicht so gut gemeint hatte wie mit denen Matsuis, Chūgos oder Yanagisawas.
»Mein Großvater hat das Anwesen, das Tokugawa Ieyasu ihm anvertraut hat, schlecht verwaltet«, sagte O-tama. »Er wurde zum Schreiber degradiert. Und mein Vater, der diese Stelle erbte, war ein Trinker, der schließlich auch diesen Posten verlor. Er wurde zu einem herumziehenden rōnin , der sich sein Geld verdiente, indem er als Wächter für Bauerndörfer arbeitete. Wir ernährten uns von Hirse und wohnten in Hütten. Und immer war das Geld knapp; mein Vater konnte sich keine Mitgift für meine Hochzeit leisten. Als ich achtzehn war, setzte er mich auf die Straße.«
O-tama beugte sich näher an den Schirm heran. Hinter dem milchigen Papier konnte Sano das Oval ihres Gesichts erkennen. »So kam ich nach Edo. Ich suchte nach einer Anstellung als Hausmädchen, konnte aber keine Dame finden, die bereit gewesen wäre, ein Mädchen wie mich einzustellen. Sie alle fürchteten, ich könne die Lust der Männer im Hause erregen und die Frauen eifersüchtig machen. Denn trotz meines harten Lebens war ich schön.« Ein seltsamer, trauriger Beiklang schlich sich in O-tamas Stimme. Sie schluckte hörbar; dann fuhr sie fort: »Der Winter kam. Ich lebte auf der Straße, als Bettlerin. Mir war bitterkalt, und ich war hungrig und verzweifelt. Mein Leben lang hatte ich meinen Vater von unseren großartigen Vettern reden hören. Also bin ich zu ihnen gegangen, sie um Hilfe bitten.
Zuerst versuchte ich es bei Matsui, in seinem Geldverleih-Geschäft. Er gab mir ein paar Münzen, so daß es für eine Mahlzeit reichte, und schickte mich fort, nachdem er mir gesagt hatte, ich solle mich nie wieder bei ihm blicken lassen. Chūgo wollte mich gar nicht erst empfangen. Und Kammerherr Yanagisawa …«
Ihr Seufzer zitterte wie der Wind in toten Blättern. Diese Frau, die in solchem Luxus lebte, hatte ihre harte Vergangenheit nie
Weitere Kostenlose Bücher