Die Rache des Samurai
Verbündete gewesen. Vielleicht ging aus den historischen Urkunden eine Verbindung zwischen den Ereignissen der Vergangenheit und den Morden hervor. Sano beschloß, in den Archiven des Palasts von Edo nach diesem Bindeglied zu forschen, bevor er Aoi wieder aufsuchte.
Während er durch die Straßen Nihonbashis ging, verblaßte das Licht des Tages; am verdüsternden Himmel zog eine zerfetzte Wolkendecke auf, die Edo nach und nach in graues Zwielicht hüllte. Der auffrischende Wind wirbelte Staub durch die Straßen, und ein seltsames, silbriges Licht lag auf den Brustwehren des Palasts und den Kuppen der Hügel im Westen. Sano, der sein Pferd am Zügel führte, damit das Tier sich von der anstrengenden Reise dieses Tages erholen konnte, beobachtete mit Besorgnis, welche Auswirkungen die Morde auf die Stadt hatten.
Obwohl die Dunkelheit frühestens in einer Stunde hereinbrach, hatten die Läden schon geschlossen. Die Menschenmengen – Kaufleute, Handwerker und Arbeiter –, die sonst um diese Zeit nach Hause strömten, waren bereits verschwunden und hatten die Straßen dem schlimmsten Pöbel Edos überlassen. Banden beschäftigungsloser, müßiger junger Samurai und randalierender gemeiner Bürger streiften auf der Suche nach Streit durch die Stadt. Umherziehende rōnin und andere Herumtreiber lungerten in dunklen Ecken. Viele verängstigte Bürger, die ihre Häuser aus Furcht nicht verließen, spähten aus den Gitterfenstern. Andere jedoch achteten die Gefahr nicht oder mußten dringende Besuche machen und begaben sich auf die gefährlichen Straßen, wodurch sie die Gefahr gewalttätiger Ausbrüche heraufbeschworen. Sakeverkäufer machten ein schnelles Geschäft, wie auch die wenigen heruntergekommenen Teehäuser, die noch geöffnet hatten. Prostituierte, die in Edo eigentlich verboten waren und nur in Yoshiwara ihrem Gewerbe nachgehen durften, lockten aus dunklen Hauseingängen Kunden an. An jeder Ecke boten Nachrichtenverkäufer ihre bedruckten Blätter feil.
»Der bundori- Mörder hat sich ein drittes Opfer geholt! Werdet Ihr der nächste sein?« riefen sie den Passanten zu.
An einer Kreuzung hatte sich eine Menschenmenge um ein altes Weib mit langem, strähnigem weißem Haar geschart, das vor einem kleinen Haufen schwelender Weihrauchstäbchen hockte. Die Augen geschlossen, die Hände himmelwärts gerichtet, rief sie mit klagender, schriller Stille: »Der unsichtbare Geist wandelt unter uns. Heute nacht wird ein weiterer Mann sterben!«
Sano sah seine Befürchtung bestätigt, daß die Geistergeschichte sich verbreitet hatte, getragen von einer Woge ansteckenden Aberglaubens, die unkontrollierbar anschwoll, da es keine andere Erklärung für die Morde gab und bislang kein Täter aus Fleisch und Blut gefunden worden war. Eine Atmosphäre aus Angst, Erregung und Neugier hatte sich im ohnehin stets brodelnden, unruhigen Händlerviertel ausgebreitet. Verärgert versuchte Sano, die brisante Situation zu entspannen, bevor sie gefährlich wurde.
»Gib her!« Er riß einem Nachrichtenverkäufer die bedruckten Blätter aus der Hand und überflog die reißerischen Berichte über die Morde an Kaibara, an dem Eta und an Tōzawa, die mit blutrünstigen Zeichnungen der Trophäen illustriert waren. Außer sich vor Zorn, zerriß Sano die Blätter und schleuderte die Fetzen fort. »Du machst den Leuten angst. Fort mit dir!«
Er drängte sich durch die Menge, die sich um die alte Seherin geschart hatte, und ergriff die Frau am Arm. »Die Vorstellung ist zu Ende. Verschwindet.« Die Umstehenden brüllte er an: »Geht nach Hause! Alle!«
Doch es gab noch andere Nachrichtenverkäufer und Hellseher, und sie verbreiteten weiterhin Furcht und Schrecken. Überdies folgte die Menge Sanos Aufforderungen nicht. Fassungslos blickte er sich um. Wo blieb denn nur die Polizei?
Ein dōshin mit zwei Helfern eilte an Sano vorüber. Der dōshin stieß einen wild dreinblickenden Samurai vor sich her, dem die Hände auf dem Rücken gefesselt waren, während die Helfer einen zweiten Samurai zwischen sich gepackt hielten, der aus einer Schulterwunde blutete und vor Schmerzen stöhnte.
Sano eilte den Polizisten hinterher. »Was ist denn geschehen?«
»Jeder dieser beiden Burschen hielt den anderen für den bundori -Mörder, und es kam zu einem Kampf«, erklärte der dōshin ; dann rief er der gaffenden Menge zu: »Laßt uns durch!«
Sano wurde zunehmend verärgert, als sie zu einem Tor gelangten, an dem zwei Wachposten befehlsgemäß die
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