Die Rache des Samurai
Jetzt werde ich mit jedem in diesem Haus sprechen, der gestern abend hier war. Ich fange mit der Kurtisane an, mit der Tōzawa sich vergnügt hat. Was die Gäste betrifft, die schon abgereist sind, werdet Ihr mir eine Liste ihrer Namen erstellen.«
»Das ist unmöglich!« stieß Uesugi hervor, und nun fiel auch der letzte Rest Höflichkeit von ihm ab. »Die Privatsphäre der yūjo und der Gäste …«
»Ist wichtiger, als den Mörder zu fassen? Da bin ich anderer Meinung.«
Mit einer plötzlichen Kehrtwendung erschien wieder das Lächeln auf Uesugis Gesicht, und einlenkend sagte er: »Wie Ihr wünscht. Ich werde Euch die Namen aufschreiben und anschließend alle, die im Hause sind, im Salon zusammenrufen.«
Sano erkannte, daß Uesugi die Absicht hatte, ihm gefälschte Namen zu nennen und die Kunden, die sich noch im Haus aufhielten, zur Hintertür hinauszuschmuggeln. »Entschuldigt mich einen Augenblick«, sagte Sano.
Er ging zur Eingangstür und rief den Sicherheitsbeamten, die auf der Straße warteten, zu: »Achtet darauf, daß niemand dieses Haus verläßt.« Er kehrte zu Uesugi zurück, nahm das Buch vom Schreibpult und steckte es sich zusammen mit Tōzawas Schwertern unter den Arm. Dann sagte er: »Und nun werde ich Euch helfen, Eure Angestellten und die Kunden zusammenzurufen.«
Jetzt, da er seine Amtsgewalt ausspielte, ließen Sanos Wut und Enttäuschung ein wenig nach. Er begleitete den zornbebenden Uesugi auf einem Rundgang durch die Privatzimmer des Himmlischen Vergnügens. Diese nahmen den hinteren Teil des Erdgeschosses und die gesamte obere Etage des Hauses ein und bildeten ein Quadrat, das den Garten umschloß, wobei die Zimmer der Diener zur Gasse hinaus lagen. Sano ging über jeden Flur, klopfte an jede Tür, was mitunter mit überraschten Schreien quittiert wurde, gefolgt von hektischem Füßescharren und Rascheln von Kleidung. Schiebetüren glitten zur Seite, und eine zerzauste Parade hastig angezogener, verschlafen dreinblickender verängstigter Männer und Frauen zog in den Salon.
Für die Gespräche mit den Angestellten und Gästen des Hauses hatte Sano Uesugis Schreibstube in Beschlag genommen. Erstaunt betrachtete er nun die Frau, die ihm gegenüber kniete. Sperling, Tōzawas Gespielin in der vergangenen Nacht, zählte sichtlich zu den zweitklassigen Kurtisanen des Himmlischen Vergnügens und war alles andere als das kleine, zierliche Wesen, wie ihr Künstlername hätte vermuten lassen. Sie hatte die besten Jahre hinter sich und alle körperlichen Reize verloren, die sie einst besessen haben mochte. Unter einem blauweißen Baumwollkimono zeichnete sich ihre massige, formlose Gestalt ab; sie hatte ein Doppelkinn, und die Haut unter ihren Augen war verquollen. Weiße Strähnen durchzogen ihr Haar, das sie sich schlampig zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Offensichtlich bot das Himmlische Vergnügen seinen Gästen eine große Bandbreite weiblicher Reize.
»Habt Ihr die gestrige Nacht und die Nacht davor mit Tōzawa verbracht?« fragte Sano.
»Ja, Herr, das habe ich.«
Lächelnd zupfte Sperling ihren Kimono und die Röcke zurecht; sie saß da wie eine Henne im Nest. Plötzlich erkannte Sano den Grund für die Anziehung, die eine Frau wie Sperling auf bestimmte Männer ausübte, und weshalb Uesugi sie überhaupt noch beschäftigte: Sperling strahlte mütterliche Wärme aus. Ein Kunde, der Kummer hatte, konnte den Kopf auf Sperlings wogenden Busen betten, Trost in ihrer warmen, gütigen Stimme und ihrem Lächeln finden und wie ein Kind in ihren dicken, weichen Armen schlafen. Alles zum gleichen horrenden Preis wie der wildeste Sex. Sano war froh darüber, daß Tōzawa seine letzten Stunden bei einer Frau wie Sperling verbracht hatte.
»Hat Tōzawa mit Euch geredet?« erkundigte er sich.
»Oh, sicher, ja. Das tun alle meine Männer.« Ein fröhliches Kichern ließ ihren fetten Körper erbeben. »Weil ich gern zuhöre.«
Genau das, was Sano erwartet hatte. »Worüber hat Tōzawa gesprochen?«
»Daß er seine Stellung verloren hat, als sein Herr in Schwierigkeiten geriet und viele seiner Gefolgsleute entlassen mußte. Er hat mir erzählt, was für ein hartes Leben er führen mußte und welcher Schande er ausgesetzt war. Und daß er darauf hoffte, in Edo Arbeit zu finden.« Trauer umwölkte Sperlings Blick: Anders als der Besitzer des Himmlischen Vergnügens hatte sie Mitleid mit dem unglücklichen Tōzawa. »Mit seinem lauten Gejammer und Gepolter hat er jeden verärgert; aber es
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