Die Rache des Samurai
schreckliches Verbrechen!« sagte Sano und spürte das Entsetzen, das dieser Verstoß gegen den bushidō schon immer bei ihm hervorgerufen hatte.
»Ein Verbrechen, für das Akechi die gerechte Strafe erhalten hat«, erinnerte Noguchi den jüngeren. »Fürst Odas getreuen Verbündeten, Toyotomi Hideyoshi und Tokugawa Ieyasu, erging es sehr viel besser.«
Sano zitierte ein altes und treffendes Sprichwort: »›Nobunaga brach die Steine, um das Fundament des Landes daraus zu erbauen, Hideyoshi behaute die Steine, und Ieyasu legte sie aus.‹«
»Oder: ›Nobunaga mahlte das Mehl, Hideyoshi backte den Kuchen, und Ieyasu aß ihn auf.‹ Hi, hi, hi.«
»Ja.« Sano lächelte über Noguchis Scherz. Niemand konnte bestreiten, daß Tokugawa Ieyasu und Toyotomi Hideyoshi von Odas Rücksichtslosigkeit profitiert hatten – und von seinem Tod. Odas direkter Nachfolger, Hideyoshi, hatte die ererbten Ländereien gefestigt. Ieyasu schließlich war der erste Shōgun geworden, der über ein geeintes Land herrschte. Ohne Akechi Mitsuhides Verrat hätte niemand die militärische Vormachtstellung erringen können.
Laut las Noguchi den Bericht über die Geschehnisse nach Oda Nobunagas Tod vor.
»Yamazaki. Nachdem General Toyotomi Hideyoshi die Nachricht vom Tod Fürst Odas erhalten hatte, begab er sich unverzüglich auf einen siebzigtägigen Marsch durch Wind und Regen, um an dem verräterischen Akechi Mitsuhide Vergeltung zu üben.«
»Große Güte!« unterbrach sich Noguchi. »Hier ist einer der Namen, die Ihr sucht.«
»Laßt sehen!« Sano, den das langsame, beinahe ehrfurchtsvolle Lesen des Archivars mit Ungeduld erfüllte, nahm Noguchi die Schriftrolle aus der Hand.
»In der Streitmacht, von der Hideyoshi begleitet wurde, befanden sich sein Oberbefehlshaber, Endō Munetsugu, sowie General Fujiwara, einer der getreuesten Gefolgsleute Fürst Odas. An Akechi wurde rasche und harte Vergeltung geübt. Nachdem sie Akechis kleine Armee vernichtet hatten, töteten sie Akechi, der vergeblich um Gnade flehte, auf der Flucht über die Felder.
Dann, auf dem Gipfel ihres ruhmreichen Sieges, wandte General Fujiwara seine Truppen plötzlich gegen Endō Munetsugu. Der große General Fujiwara schwang seine zwei Schwerter, auf deren Stichblättern die Abbilder von Totenschädeln grinsten; er mähte die Soldaten Endōs nieder und zog eine blutige Schneise durch die Reihen des Gegners. Doch auch er mußte schreckliche Verluste hinnehmen. Aus den beiden Verbündeten waren erbitterte Feinde geworden, weil …«
Zu Sanos Enttäuschung war die Schriftrolle an dieser Stelle zerfallen. Stücke modrigen Papiers, mit verblaßten, bruchstückhaften Schriftzeichen bedeckt, zerbröselten zwischen seinen Fingern. Er entrollte den unversehrten unteren Teil der Schrift, stellte aber fest, daß nirgends General Fujiwara, Endō Munetsugu oder Araki Yojiemon erwähnt wurden. Sano und Noguchi schauten sich die anderen Rollen an, die sich in der Kiste befanden, und entdeckten Hinweise auf die drei Männer – doch waren es allesamt nur kurze Einträge, die sie als Teilnehmer an verschiedenen Schlachten kennzeichneten.
»Ich kann mich erinnern, hier drin irgendwann einmal etwas entdeckt zu haben …« Noguchi öffnete eine der Kisten, die mit ›Muß noch geordnet werden‹ beschriftet waren, und sah die Schriftrollen durch, wobei er so behutsam damit umging, als wären sie zerbrechliche Lebewesen. Sano öffnete eine andere Kiste. Eine gründliche Suche brachte einen einzigen, allerdings faszinierenden Fund zutage: Eine Schriftrolle, die anderthalb Jahre später datiert war als jene, die Sano zuletzt gelesen hatte.
»Kyōto. Am zwanzigsten Tag des zwölften Monats herrschte starker Schneefall, und es wehte ein bitterkalter Wind. Kurz vor Mitternacht näherten sich General Fujiwara und dreißig seiner Männer der Villa von Araki Yojiemon. Mit einem großen Vorschlaghammer zerschmetterten sie die dicken Bretter und Balken des Tores. Während die Hälfte seiner Leute die Rück- und Seitenwände des Gebäudes erkletterten, führte General Fujiwara den Rest seiner Männer zu einem Frontalangriff. Wie eine Legion von Rachegöttern stürmten sie durchs Tor.
Arakis Gefolgsleute erwachten aus ihrem Schlummer und verwickelten die Streitmacht General Fujiwaras in ein wütendes Gefecht. Steine splitterten von den Wänden, Fenster wurden zerrissen, und Balken stürzten um. Blut floß in Strömen, und Schreie gellten durch die Nacht, als die Kämpfer auf beiden Seiten
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