Die Rache des Samurai
Mörder den Wunsch haben könnte, nach so langer Zeit eine blutige Rechnung zu begleichen.«
»Kaibara war ein alter Mann und der letzte seiner Familie«, sagte Aoi nachdenklich.
Sano erkannte, worauf sie hinauswollte, und nahm den Faden auf. »Hätte der Mörder also nicht schnell genug zugeschlagen, wäre Kaibara eines natürlichen Todes gestorben, und der Fujiwara-Klan hätte für immer die Chance vertan, sich an den Araki zu rächen. Nach dem Mord an Kaibara kam der Täter auf den Geschmack und hat den nächsten logischen Schritt getan, indem er den Endō-Klan angriff.«
Aoi nickte, und im stillen bewunderte Sano ihre Fähigkeit, logische Schlußfolgerungen zu ziehen. Wäre Aoi nicht gewesen, wäre ihm vielleicht gar nicht bewußt geworden, welche Bedeutung Kaibaras Alter hatte, wie auch die Tatsache, daß er der letzte aus seinem Klan gewesen war. »Danke, Aoi. Ihr seid der beste Partner, den man sich nur wünschen kann.«
Zu Sanos Verwunderung schaute Aoi ihn an, als hätte er sie geschlagen: verletzt, und irgendwie beschämt.
»Was ist?« fragte er.
Sie senkte den Kopf, und Sano spürte, daß sie sich von ihm zurückzog, wie zuvor schon einmal. Was mag ihre seltsamen Stimmungsumschwünge bewirken, fragte sich Sano. Aoi schwieg, und aus Angst, sie könnte sich noch tiefer in sich selbst zurückziehen, drängte Sano sie nicht weiter. »Ich glaube, Ihr habt recht mit Eurer Vermutung, daß der Mörder sowohl Kaibara als auch seinen Ahnen vernichten wollte«, sagte er, in der Hoffnung, auf diese Weise ihr Gespräch wieder in Gang zu bringen. »Falls Ihr noch mehr Vermutungen habt, würde ich sie sehr gern hören.«
»Tut mir leid, aber ich habe keine weiteren Vermutungen.« Aois tiefe Stimme war angespannt. Sie nahm die Schwerter und das Papierschildchen vom Altar und legte beides auf den Fußboden. »Darf ich jetzt gehen?«
»Wartet.« Sano spürte, daß Aoi ihm irgend etwas vorenthielt – und er wollte nicht, daß sie ihn allein ließ.
Sie blieb, aber nur aus Gehorsam, wie Sano erkannte. Und in ihrer höflichen, kühlen Ausdruckslosigkeit war sie undurchdringlich. Sano gelangte zu der Einsicht, daß er sich ihre beiderseitige Anziehung nur eingebildet hatte. Doch die späte Stunde, das stille Haus und seine Einsamkeit erweckten in ihm das überwältigende Verlangen, sich jemandem anzuvertrauen.
»Aoi«, sagte er. »Ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann. Diese Ermittlungen sind mir sehr wichtig – und nicht nur deshalb, weil der bundori -Mörder gefaßt und vor Gericht gestellt werden muß.«
In Aois Augen entdeckte er einen Hauch von Einverständnis: Seine Schwierigkeiten waren ihr nicht gleichgültig. Ermutigt fuhr er fort.
»Kurz bevor mein Vater starb, habe ich …« Sanos Stimme brach angesichts der tiefen Trauer, die ihn stets überkam, wenn er von seinem Vater sprach. Er hielt inne, als die flackernden Lichter der Kerzen durch die Tränen, die ihm in die Augen traten, verschwammen, während er sich mühte, seine Gefühle im Zaum zu halten. »Ich habe ihm versprochen, eine Heldentat zu vollbringen, die unserer Familie einen Ehrenplatz in der Geschichte sichert. Inzwischen aber fürchte ich, statt Ruhm Schande über unseren Namen zu bringen.«
Plötzlich brannte Sano das Gesicht vor Scham. Ein wahrer Samurai wäre unerschütterlich ruhig geblieben und hätte alles Persönliche für sich behalten. Doch irgendwie veranlaßte Aoi ihn, seine Gedanken und Empfindungen in Worte zu kleiden – und was für eine wundervolle Erleichterung ihm dies brachte! Aber würde sie ihn nicht seiner Feigheit wegen verachten? Dennoch: Das tiefe Einfühlungsvermögen, das er in ihren Augen sah, erstaunte ihn und erwärmte ihm das Herz.
»Wir gehen Verpflichtungen ein, die wir nur schwer erfüllen können«, sagte sie leise. »Und manchmal liegen die größten Hindernisse in uns selbst. Können wir jemals stark genug sein, sie zu überwinden?«
Hinter ihrer rätselhaften Fassade erhaschte Sano einen kurzen Blick auf eine Frau, die den erbitterten Kampf zwischen der Pflicht und dem Selbst begreifen konnte, der in seinem Inneren tobte. Denn Aoi erging es nicht anders als ihm selbst. Und die leise Verwunderung in ihren Augen spiegelte Sanos aufkeimende Erkenntnis, eine verwandte Seele vor sich zu haben. Für einen unbestimmbaren Zeitraum blickten sie einander im Zustand des ishin-denshin an: der wortlosen, rein gefühlsmäßigen Verbindung, die in einer Gesellschaft, in der niemand tiefe Empfindungen zeigte,
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