Die Rache des Stalkers
gesichtslosen Mördern her, doch wenn sie endlich einen entscheidenden Schritt getan hatte, tauchte der nächste Killer auf, um sein noch viel schlimmeres Unwesen zu treiben. Da sie nie bei geschlossener Schlafzimmertür schlief, drang das im Wohnzimmer klingelnde Telefon in ihr Bewusstsein. Schlaftrunken tastete sie nach ihrem Handy, bevor sie realisierte, dass das Geräusch aus dem angrenzenden Raum kam. Um einen dienstlichen Anruf konnte es sich nicht handeln, weil dafür die Handynummer genutzt worden wäre.
»Warum ich?«, stöhnte sie und beschloss, Franks neuesten Terror zu ignorieren, obgleich sie mit jeder Tonfolge wacher wurde. Nach dem zwölften Klingeln gab sie auf. Zumal die vage Möglichkeit bestand, dass jemand anderes dringend mit ihr reden musste. Sie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Langsam schlurfte sie ins Wohnzimmer, wo sie den Hörer abhob.
»Was?«, meldete sie sich. Einen Moment lang hörte sie ein Atemgeräusch, ehe die Verbindung unterbrochen wurde. Kopfschüttelnd legte sie auf. Bestimmt dauerte es eine ganze Weile, bis sie wieder einschlafen konnte. Ohne das Licht einzuschalten, ging sie in die Küche und entnahm dem Kühlschrank eine Flasche Milch. Der fahle Schein einer Laterne spendete genügend Helligkeit. Sie holte aus einem Schrank ein Glas, schüttete die Flüssigkeit hinein, erwärmte sie in der Mikrowelle und setzte sich an den Küchentisch. Während sie die Milch in kleinen Schlucken austrank, dachte sie über ihr Leben nach. Sie war vierunddreißig, ein Alter, in dem ihre beiden Schwestern bereits eine Familie gegründet und Kinder in die Welt gesetzt hatten. Sie dagegen hockte nachts in ihrer Bude, einsam und von einem psychotischen Ex-Freund belästigt. Außer ihrem Beruf gab es nichts, was sie antrieb. Sie hatte keine nennenswerten Hobbys und nur wenige echte Freunde. Irgendetwas war in den vergangenen Jahren so schiefgelaufen, dass es ihr nichts ausmachte, die Wochenenden mit Arbeit zu füllen. Die Zeit mit Frank hatte ihr keine Perspektive geboten. Anja hatte immer gewusst, dass sie mit ihm niemals eine Familie gründen würde. Er war ihr Alibi gewesen, um sich nicht mit diesem Thema zu beschäftigen.
Mit vierunddreißig war noch nicht alles verloren. Sie war nicht zu alt, um einen anderen Kurs einzuschlagen. Anja trank den letzten Schluck und schwor sich, ihrem Privatleben mehr Platz einzuräumen, sobald sie die aktuellen Ermittlungen abgeschlossen hatte.
Als das Telefon erneut zu klingeln begann, zuckte Anja zusammen. Sie stand auf, lief ins Wohnzimmer und stöpselte das Telefonkabel aus. Sofort verstummte das Gerät.
Schon bald würde sie wieder alles im Griff haben. Mit dieser Vorstellung begab sie sich zurück ins warme Bett.
***
»Polizei?«, erkundigte sich Maria Carral erschrocken. Es war Viertel nach zwölf am Samstagmittag. Wegen Nadines Erkältung, die sie am Wochenende auskurieren wollte, musste Anja das anstehende Programm allein durchziehen.
»Entschuldigen Sie, dass ich heute störe, ich habe ein paar Fragen über Ihre Freundin Julia Volk.«
»Was ist mit Julia?«
Innerlich stöhnte Anja. Sie hatte gehofft, Julias Bekannte wüssten mittlerweile Bescheid, doch nun war es wiederum an ihr, die Überbringerin einer schlechten Nachricht zu sein.
»Können wir drinnen weiterreden?«
Maria verstand und Tränen sammelten sich in ihren Augen. In dieser Sekunde wünschte sich Anja Nadine herbei.
»Wann ist es passiert?« Maria hielt sich ein Couchkissen vor den Bauch. Sie kämpfte gegen einen weiteren Tränenausbruch.
»In der Nacht von Donnerstag auf Freitag.«
Die junge Frau blickte Anja entsetzt an. »Nach ihrem Blind Date?«
Die Kommissarin wurde hellhörig. Bisher hatte ihr niemand mitteilen können, wie Julia Volk den Abend verbracht hatte. »Wissen Sie etwas über diesen Abend?«
»Ich weiß jedenfalls, was Julia geplant hatte«, meinte Maria, legte das Kissen beiseite und stand auf, um zu ihrem Schreibtisch zu gehen. Nach kurzem Suchen fand sie dort einen Zettel, den sie Anja in die Hand drückte. Darauf war ein Name samt Telefonnummer und Postfachadresse notiert, außerdem ein griechisches Restaurant.
»Wir haben darüber gescherzt, wie gefährlich ein Blind Date sein könnte«, flüsterte Maria, die den Kampf gegen die Tränen verlor. »Um sich abzusichern«, schluchzte sie, »hat sie mir diese Informationen gegeben.«
Anja konzentrierte sich auf den Zettel. Oliver Brandt. Der Name eines Mörders? Zumindest war er ein wichtiger
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