Die Radleys
Folge.
Ich.
Nehm’s.
Mir.
Einfach.
[Menü]
AUS DER NASSEN FINSTEREN LUFT
Clara surft seit Stunden im Internet. Sie hat bei Wikipedia angefangen, auf der Suche nach Vampirkulturen, ist aber nicht sehr weit gekommen, da nur Unblutige Beiträge für Online-Enzyklopädien verfassen.
Irgendwo tief, tief unten auf den Google-Trefferlisten stieß sie dann allerdings auf einen interessanten Facebook-Klon namens Neckbook. Lauter intelligente, künstlerische, gutaussehende, wenn auch blassgesichtige Teenager tummelten sich dort und unterhielten sich in einer beinahe exklusiven Sprache, die sich aus eigenartigen Slangwörtern, Akronymen und Smileys zusammensetzte, wie sie sie noch nie in SMS- oder E-Mail-Nachrichten gesehen hatte.
Ihr war ein besonders umwerfender Junge mit einem misstrauischen Koboldlächeln aufgefallen, dessen Haare so schwarz waren, dass sie beinahe leuchteten. In seinem Steckbrief unter dem Foto stand:
Midnight Boy – Vollzeit Vera Pim, sucht non-sirking vert/Langzeit-Chica/o für Liebesbisse, B-Reisen, plus literweise VB.
Clara war enttäuscht. Sie war ein Vampir, aber die gesamte blutsaugende Gemeinschaft war ihr fremd. Sie beschloss, auf YouTube zu gehen, um sich Clips aus den Filmen anzusehen, die ihr Will empfohlen hatte. Teile aus Les Vampires, Dracula (der Fassung von 1931 – »die einzige, bei derechte Vampire mitgemacht haben«, hatte Will gesagt). Near Dark, Begierde und dem mit Abstand besten, The Lost Boys. Aber plötzlich, jetzt, als sich auf dem Bildschirm Nudeln in Maden verwandeln, spürt sie, dass etwas nicht stimmt. Sie hat ein komisches Gefühl im Bauch und auf der Haut, als ob ihr Körper vor ihrem Verstand Bescheid wüsste.
Und dann passiert es.
Es klingelt an der Tür, und ihre Mutter macht auf.
Clara hört die Stimme ihres Onkels, aber nicht, was er sagt.
Ihre Mutter schreit.
Clara rennt nach unten, wo Will ihrer Mutter im Flur ein Messer an die Kehle setzt.
»Was machst du da?«
Er deutet auf das Aquarell an der Wand. »Offensichtlich hat der Apfelbaum giftige Wurzeln bekommen. Muss gefällt werden.«
Clara hat keine Angst. Überhaupt keine. Sie denkt an nichts anderes als an das Messer. »Lass sie los.« Sie tritt vor.
»Nee, nee«, sagt er, schüttelt den Kopf und presst das Messer an Helens Haut. »Geht nicht.«
Helens Blick bohrt sich in ihre Tochter. »Clara, nicht. Geh einfach weg.«
Will nickt. »Deine Mutter hat recht. Geh einfach weg.« In seinen Augen liegt unverkennbarer Wahnsinn, der sagt, dass er zu allem fähig ist.
»Ich verstehe das nicht.«
»Du bist nichts, Clara. Du bist bloß ein naives, kleines Mädchen. Glaubst du, ich bin hierhergekommen, um dich aus der Scheiße zu holen? Wie kann man so dumm sein. Du bist mir total egal. Mach. Die. Augen. Auf.«
»Bitte, Will«, sagt Helen, als das Messer an ihrem Kinnentlangstreift. »Es war die Polizei. Sie haben mich gezwungen …«
Will ignoriert sie und redet im gleichen boshaften Ton weiter auf Clara ein. »Du bist ein Versehen«, erklärt er ihr. »Das traurige kleine Produkt von zwei Leuten, die zu schwach waren, um zu kapieren, dass sie nicht zusammenpassen. Das Ergebnis der fehlgeleiteten Instinkte deiner Eltern und ihrem Hass auf sich selbst … Geh, kleines Mädchen. Geh und rette wieder die Wale.«
Dann zieht er Helen rückwärts durch die offene Tür nach draußen, und nach einer kurzen Unschärfe sind sie weg. Clara schnappt nach Luft, als sie realisiert, was gerade passiert ist. Er ist mit ihrer Mutter weggeflogen.
Sie rennt nach oben, öffnet das Fenster und beugt sich hinaus in den Regen. Sie kann sehen, wie sie immer weiter wegfliegen, direkt über ihr, allmählich mit der Nacht verschmelzen. Was soll sie nur tun? Als es ihr einfällt, greift sie nach der Flasche mit dem VB, die unter ihrem Bett liegt, und setzt sie an die Lippen. Ein Tropfen fällt in ihren Mund, aber sie hat keine Ahnung, ob das reicht.
Mit dem Wissen, dass dies die letzte Chance ist, ihre Mutter zu retten, klettert sie auf das Fensterbrett, beugt die Knie und taucht kopfüber in die regennasse Luft.
»Lass uns nach Paris fliegen, Helen. Lass uns die Magie wieder zum Leben erwecken … oder einfach zum Mond fliegen.«
Er zieht sie beinahe senkrecht nach oben. Helen sieht ängstlich zu, wie das Haus unter ihr schrumpft. Sie drückt ihren Hals an die Messerklinge, gerade so viel, dass sie blutet.
Sie berührt das Blut.
Kostet es. Sie und er zusammen.
Und dann wehrt sie sich.
Sie wehrt sich gegen den
Weitere Kostenlose Bücher