Die Radleys
gemacht hat.«
Er ist nah genug, sodass Rowan seinen Atem riechenkann, allerdings dauert es eine Weile, bis ihm klar wird, was er da eigentlich riecht.
»Stehlen«, sagt Will. »Das Kästchen hat ein fettes Kreuz. Aber keine Sorge, ich habe für Ausgleich gesorgt. Siehst du, du hast mein Blut gestohlen, und ich deins. Man nennt das Ying und Yang, mein Sohn.« Wahnsinn liegt in Wills Augen. Es sind die Augen eines Monsters. »Ich bin nicht wie du. Ich habe vor geraumer Zeit aufgehört, auf mein Gewissen zu hören. Hat zu viel Krach gemacht. Wie eine zirpende Grille im Ohr.«
Rowan versucht zu verstehen, was er ihm damit sagen will. Er erkennt, wessen Blut er riecht, und die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag in die Magengrube.
»Ich hab bloß getan, was du eigentlich tun wolltest«, sagt Will, der die Gedanken seines Sohnes liest. »Ich habe sie mir geschnappt und sie gebissen und ihr Blut probiert. Und dann …« Er lächelt, sagt alles, was ihm einfällt, um Rowan zu provozieren. »… dann habe ich sie getötet. Ich habe Eve getötet.«
Rowan denkt an Eve, wie sie ihm am Vormittag im Unterricht die Nachricht zugeschoben hat. Er denkt an das kleine Lächeln, das sie ihm geschenkt hat, und bei der Erinnerung wird ihm noch elender, sie überwältigt ihn beinahe. Es ist seine Schuld. Weil er Eve alleingelassen hat, konnte das passieren.
Eine kühle Brise streicht über sein Gesicht. Der Atem eines Geistes.
»Wo … ist …«
Will zuckt mit den Schultern, als hätte man ihn nach der Uhrzeit gefragt. »Ach, ich weiß nicht. Ungefähr sieben nautische Meilen draußen im Meer«, lügt er. »Inzwischen fast auf dem Grund, würde ich sagen, und erschreckt die Fische. Wobei die Farbe Rot im Wasser als Erstes verschwindet.Wusstest du das? Ist doch interessant, nicht wahr? Diese armen blinden Fische. Gefangen in einer Welt aus Blau.«
Rowan kann nicht klar denken. Die Verzweiflung sitzt so unmittelbar und absolut in seinem Gehirn, dass er nichts tun kann, als zu Boden zu sinken und sich wie ein Fötus zusammenzurollen. Eve ist tot.
Nicht so Will, dem Moral nie weniger anhaben konnte als jetzt, wo sein Sohn hilflos wie eine Marionette ohne Fäden am Boden kauert. Ein erbärmlicher, ekelhafter Anblick.
Er beugt sich über ihn und versetzt ihm einen Hieb mit der reinen Wahrheit. »Das war nicht einfach nur das Blut deiner Mutter, Rowan. Das war ein Traum, wie es hätte werden können, wenn du nie geboren worden wärst. Siehst du, es ist so, dass ich dich nie haben wollte. Auf Verantwortung reagiere ich allergisch . Allein der Gedanke daran schmeckt verfault. Wie Knoblauch. Ernsthaft, ich kriege Ausschlag, und mit Ausschlag kennst du dich ja aus. Man fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.« Er hält inne, holt tief Luft und spuckt seine Meinung aus. »Ich wollte Helen, aber nicht mit dem ganzen Gepäck .«
Rowan hat die Schwäche von seiner Mutter, kombiniert Will, während er zusieht, wie der Junge vor sich hinmurmelt. Sie hat ihn so gemacht. Ständig diese Lügen. Wie soll der Junge lernen, seine Prioritäten zu setzen, bei dem ganzen Unsinn?
»Sie hat vergessen, wer sie ist«, erklärt ihm Will. »Sie hat vergessen, wie sehr sie mich will. Aber ich bin nicht wie sie und ich bin nicht wie du. Ich kämpfe für das, was ich will. Und wenn man es mir nicht gibt, dann nehme ich es mir einfach.«
Will nickt vor sich hin. Jetzt liegt es so klar vor ihm, das Wissen, dass ihn weder Moral noch Schwäche aufhalten kann. Ich bin rein. Ich bin eine höhere Rasse. Ich steheüber all diesen Unblutigen und Abstinenzlern und kleinmütigen, verlogenen Seelen da draußen.
Ja, denkt er und lacht.
Ich bin Lord Byron.
Ich bin Caravaggio.
Ich bin Jimi Hendrix.
Ich bin sämtliche blutsaugenden Abkömmlinge von Kain, die je die Luft auf diesem Planeten geatmet ha ben.
Ich bin die Wahrheit.
»Genau, ich nehm’s mir einfach.«
Er lässt seinen Sohn am Boden liegen, der Schwerkraft und ihren verbündeten Kräften unterworfen. Schnell und tief fliegt er über ein Feld, betrachtet die Erde mit der Geschwindigkeit, in der sie sich wirklich dreht.
Einen Atemzug später ist er vor der Haustür in der Orchard Lane Nummer siebzehn angekommen. Er zieht das Messer aus der Innentasche seines Regenmantels. Ein Finger seiner anderen Hand beschreibt einen kleinen Kreis in der Luft, lauert über der Klingel wie der Degen eines Fechters, bevor er zustößt. Dann drückt er auf den Knopf, viermal hintereinander in schneller
Weitere Kostenlose Bücher