Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
all
seine Kräfte: Beim Rennen schützt man einander, verausgabt sich für den
anderen, der wiederum dasselbe tut. Man gibt all seine Zeit: Man reist
zusammen, wohnt zusammen, nimmt jede Mahlzeit gemeinsam ein. Man fährt täglich
zusammen, stundenlang. Bis heute weiß ich von jedem meiner Teamkameraden noch,
wie er sein Essen kaute, wie er seinen Kaffee trank, wie sein Gang aussah, wenn
er erschöpft war, wie er nach einem beschissenen oder großartigen Tag aus der
Wäsche schaute. Andere Sportmannschaften nennen sich gern »Familien«. Im
Radsport fühlt man sich wirklich so. Es hatte uns vier gemeinsam an diesen
abgelegenen Ort verschlagen, und wir wurden unzertrennlich. Auch wenn wir zu
den Rennen fuhren, blieben wir zusammen. Der Rest des Pelotons betrachtete uns
mit einer Art höflichen Neugier, als wären wir vier Kleinkinder, die in einem
Büro herumstolperten: Oh, schaut, die neuen
Amerikaner – wie niedlich! Unser Gefühl des Abgesondertseins wurde
noch dadurch verstärkt, dass das Peloton im Wesentlichen eine Art Clique ist,
in der spezifische Regeln gelten, die wir allesamt brachen.
Da war zum Beispiel die Sache mit den Klimaanlagen. Europäische
Fahrer hielten Klimaanlagen für eine ausgesprochen gefährliche Erfindung; sie
machten krank und trockneten die Lungen aus. Wenn jemand im Bus oder in einem
Hotelzimmer die Klimaanlage einschaltete, sah man ihn an, als verbreitete er
die Beulenpest.
Oder die Sache mit der Mousse au Chocolat (führt zu
Schweißausbrüchen).
Man setzte sich auch nicht an den Straßenrand (ermüdet die Beine).
Obskur das strikte Verbot, den Salzstreuer von Hand zu Hand
weiterzureichen (bringt Unglück, man muss ihn vorher auf den Tisch stellen).
Und schließlich gab es noch eine Regel gegen das Rasieren der Beine
am Abend vor einem wichtigen Rennen (der Körper verbraucht zusätzliche Energie,
um die Haare nachwachsen zu lassen).
George erwies sich aus zwei Gründen als idealer Zimmergenosse.
Erstens hatte er lauter elektronisches Spielzeug. Damals war so etwas noch eher
selten, aber George war ein wandelnder Elektromarkt: Er schleppte einen
tragbaren DVD -Player, Lautsprecher, die neuesten
Mobiltelefone, Laptops und so weiter mit sich herum. Von ihm bekam ich mein
erstes Handy; er zeigte mir auch, wie man SMS -Nachrichten
schreibt.
Außerdem lehrte er mich die Kunst der Faulheit. Wir nannten das
natürlich nicht Faulheit, sondern »Kräfte konservieren«, ganz, ganz wichtig für
einen guten Radsportler. Die Methode war einfach: möglichst wenig stehen,
möglichst viel schlafen. George war darin erstaunlich gut, ein Superman im
Herumhängen. Tagelang erhob er sich nur, um zu essen, und zum Trainieren. Ich
sehe ihn noch vor mir, den schlaksigen Körper auf der Couch ausgestreckt,
umgeben von einem Haufen elektronischer Utensilien. Auch wenn’s um die Wahl des
Essens ging, sparte er seine Kräfte: Nicht selten gab es beim ihm Pizza
Margherita nicht nur zum Mittag-, sondern auch zum Abendessen. Pizza Margherita
aß er überhaupt so oft, dass es schließlich sein Spitzname wurde. Ich tat mein
Bestes, um seine energiesparenden Angewohnheiten zu kopieren, aber mir lag das
nicht so; ich war zu nervös dazu, und außerdem dachte ich ständig daran, ob ich
ins A -Team aufgenommen werden würde.
Meine Sorgen gingen, so seltsam es klingt, auf George selbst zurück,
genauer, auf ein Gespräch, das ich zufällig mitgehört hatte. Die Wände unserer
Wohnung bestanden nämlich aus mit Wandfarbe gestrichenen Gasbetonsteinen, die
Fußböden aus weißen spanischen Fliesen. Man konnte keine Stecknadel fallen
lassen, ohne dass es alle hörten. Flüstern etwa war in der ganzen Wohnung zu
hören, und da wurde einiges geflüstert, nämlich zwischen George und unserem
Teamleiter Johnny Weltz.
Es war nur natürlich, dass Johnny George besuchte: Schließlich war
George einer der besten Fahrer im Team, unsere größte Hoffnung auf einen
Klassikersieg, der dem Postal-Team die Teilnahme an der Tour bringen konnte.
Nicht natürlich war hingegen, dass Johnny manchmal einen weißen Beutel
mitbrachte. Man hörte die Papiertüte rascheln. Außerdem flüsterten sie bei
ihren Unterhaltungen unter vier Augen – oder sie sprachen Spanisch. George
und Johnny beherrschten die Sprache beide fließend, aber schließlich waren wir
alle im selben Team, warum sprachen sie nicht Englisch? Klar, dass Scott,
Darren und ich neugierig wurden. Wir sahen, wie George ein kleines, in Folie
eingewickeltes Päckchen im
Weitere Kostenlose Bücher