Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
sie nach dem Rennen nach Hause
fuhren.
Bestimmte Fahrer. Nicht alle.
Beim ersten Mal fielen mir die weißen Beutel einfach auf. Nach zwei
Rennen achtete ich bewusst darauf, wer sie bekam: nur die besten Fahrer im Team – Hincapie, Jekimov, Baffi, Robin, die ich insgeheim das » A -Team«
nannte. Meine Stimmung sank, als ich mir klarmachte, dass ich dann wohl zum B -Team gehören musste.
Zu dieser Zeit hörte ich auch zum ersten Mal die Formulierung »auf
paniagua fahren«. Manchmal wurde sie in sehr niedergeschlagenem Ton gebraucht,
als ob es um einen Ritt auf einem sehr langsamen und störrischen Esel ginge. Ich hätte besser abschneiden können, aber ich fuhr auf paniagua. Dann
wieder klang Stolz durch. Ich war unter den ersten 30,
obwohl ich auf paniagua gefahren bin. Irgendwann ging mir auf, was
gemeint war: pan y agua, »Brot und Wasser«. Ich zog
den offensichtlichen Schluss: Ohne chemische Hilfe an Profirennen teilzunehmen
war etwas so Seltenes, dass es erwähnenswert wurde.
Anfangs versuchte ich die weißen Beutel zu ignorieren, aber bald
hasste ich sie und dachte dauernd an sie. Wenn mich ein A -Team-Fahrer
überholte, dachte ich an die weißen Beutel. Wenn ich erschöpft war und fast
aufgeben wollte, dachte ich an die weißen Beutel. Wenn ich wirklich alles gab
und trotzdem keine Chance hatte, dachte ich an die weißen Beutel. In bestimmter
Weise trieben sie mich sogar an; ich strengte mich mehr an als je zuvor, weil
ich beweisen wollte, dass ich besser war, dass ich stärker war als ein blöder
kleiner Beutel. Ich ging bis an die Grenze, schmeckte jeden Tag Blut im Mund,
und eine Weile funktionierte es.
Dann brach ich langsam zusammen.
Tausend Tage sind eine interessante Frist. So lange ungefähr hat es
von meinem ersten Tag als Profifahrer an gedauert, bis ich anfing zu dopen.
Wenn man mit den anderen Fahrern aus dieser Zeit spricht und ihre Geschichten
liest, sieht man ein ganz ähnliches Muster: Wer gedopt hat, fing meistens im
dritten Jahr damit an. Im ersten Jahr, als frischgebackener Profi, freut man
sich, dabei zu sein, und ist voller Hoffnung. Im zweiten Jahr wird einem klar,
wie die Dinge liegen. Im dritten Jahr kommt die Entscheidung – die Weggabelung.
Ja oder nein. Dabei bleiben oder aussteigen. Jeder hat seine 1000 Tage; jeder
trifft seine Wahl.
In gewisser Weise ist das deprimierend, andererseits aber auch nur
menschlich. Tausendmal erwacht man voller Hoffnung, nur um dann 1000
Nachmittage voller Enttäuschung zu erleben. Tausend Tage paniagua, ständig
stößt man schmerzhaft gegen jene Mauer am äußersten Ende seiner Grenzen und
versucht sie irgendwie zu überwinden. Tausend Tage empfängt man immer wieder
die Signale, dass Doping etwas ganz Normales sei; Signale starker Menschen,
denen man vertraut und die man bewundert. Die Botschaft lautet, alles wird gut und: Schließlich tun es
alle. Dabei lauert auch immer die Angst vor dem Karriereende, wenn man
es nicht schafft, schneller zu werden. Selbst wenn die Willenskräfte groß sind,
so sind sie nicht unendlich. Und wenn man die Grenze überschritten hat, gibt es
kein Zurück mehr.
Die Ruta del Sol fuhr ich auf paniagua. Ich war entschlossen, mich
zu beweisen – vielleicht zu entschlossen. Die Sonne brannte, das Tempo war
mörderisch. Fünf Tage lang fuhr ich an meiner äußersten Leistungsgrenze und
versuchte mit der Spitze mitzuhalten. Ich fühlte, wie mein Körper schwächer
wurde, und strengte mich noch mehr an. Das nächste Rennen war die Tour de
Valencia, noch fünf Tage in der Folterkammer. Ich grub tiefer in mir, fand
einen zweiten Atem, dann einen dritten und einen vierten.
Dann hatte ich keinen Atem mehr. Das Peloton wirkte, als bestünde es
aus lauter Bjarne Riises, es donnerte dahin wie ein Güterzug. Ich fühlte, wie
ich immer schwächer wurde, brüchig wie ein Blatt im Herbst. Erst zwei Wochen
war ich in Europa, und schon erlebte ich mein Menetekel. Ich verzweifelte
langsam. Bisher war ich an Herausforderungen stets gewachsen, hatte sie
irgendwie gemeistert. Keine Arbeit ist zu niedrig und keine
zu schwer. Doch jetzt war ich auf einmal nicht mehr tough genug.
Ich könnte Ihnen jetzt lang und breit schildern, was für ein
ehrlicher Mensch ich bin. Ich könnte erzählen, wie wir als Kinder beim Spielen
auf der High Street in Marblehead immer fair blieben, egal, was wir spielten.
Ich könnte von der Ehre meines Großvaters erzählen, der bei der Marine diente,
oder davon, wie peinlich es war, als ich einmal in der
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