Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Steak. Ruht
euch aus. Und nehmt vor allem jetzt kein EPO , weil
das die natürliche Reaktion eures Körpers blockiert, der gerade zusätzliche
rote Blutkörperchen bildet. Ihr werdet bald wieder so stark sein wie vorher.«
Dann fuhren wir mit den Rädern an der Küste entlang in Richtung
Süden. Trotz der Nachmittagshitze trugen wir langärmlige Trikots, um die
Heftpflaster auf unseren Armen zu verbergen. Wir fuhren nicht schnell, atmeten
aber sofort schwer und waren wie benommen. Wir kamen an einen Hügel – an einen
Winzling von einem Anstieg auf der Nordseite einer Kleinstadt namens Cullera.
Als wir dort hinauffuhren, fühlte ich mich immer schlechter. Jetzt fingen wir
alle an zu keuchen und reduzierten das Tempo, bis wir nur noch krochen.
Nur wenige Tage zuvor war ich in der Form meines Lebens gewesen und
hatte am Mont Ventoux einige der weltbesten Fahrer besiegt. Jetzt schaffte ich
kaum noch diesen jämmerlichen Buckel. Wir rissen Witze darüber, weil das alles
war, was wir in diesem Zustand tun konnten. Aber es war entmutigend, ich war
zutiefst erschüttert: Meine Kraft kam nicht aus den Muskeln. Sie steckte in
meinem Blut, in diesen Plastikbeuteln.
Das beunruhigende Gefühl verstärkte sich ein paar Tage später, als
Kevin und ich an der Route du Sud teilnahmen, einem harten, viertägigen Rennen
in Südfrankreich. Meine Teamkameraden freuten sich, als ich eintraf, und
zeigten sich beeindruckt von meinem Sieg bei der Dauphiné. Zeitungsreporter,
Radio- und Fernsehleute hegten große Erwartungen. Fahrerkollegen betrachteten
mich mit neuem Respekt. Schließlich hatte ich am Mont Ventoux gewonnen. Ich war
die nächste große Nummer, nicht wahr?
Doch in meinem blutleeren Zustand war ich die personifizierte
Peinlichkeit, ohne jeden Einfluss auf das aktuelle Geschehen. Kevin erging es
kein Haar besser. Anstatt um den Sieg mitzukämpfen, hatte ich Mühe, Anschluss
ans Feld zu halten. Nach der dritten Etappe ging es nicht mehr. Ich musste tun,
was ich am meisten hasste: aussteigen. Ich nahm die Startnummer ab, packte
meine Sachen und verließ beschämt das Mannschaftshotel.
Bei meiner Rückkehr nach Nizza erwartete ich von Lance und Johan
eine Entschuldigung. Schließlich hatten sie die Mannschaft für die Route du Sud
zusammengestellt. Lance hätte ursprünglich bei diesem Rennen auch mitfahren
sollen, sagte aber in letzter Minute ab und gab als Grund an, er müsse sich vor
der Tour noch ausruhen.
Lance oder Johan hätten mit einem einzigen Anruf auch Kevin und mich
aus der Mannschaft für die Route de Sud nehmen, uns die Demütigung ersparen und
unsere Form für die Tour sichern können. Aber das taten sie nicht. Die beiden
sprachen dieses Thema mit keinem Wort an. Sie taten so, als hätte es den Trip
nach Valencia nie gegeben. Es war beschissen. Für mich war das eine große
Lernerfahrung, ein lehrreicher Augenblick, wie man so sagt. Ich wusste aber,
dass ein Protest nichts bringen würde, hielt einfach den Mund und tat das, was
ich immer getan hatte: weitermachen. Keine Arbeit zu niedrig
und keine zu schwer.
Im Vorfeld der Tour 2000 beschäftigte sich Lance mit zwei
Hauptproblemen. Zum einen war sein körperlicher Vorteil gegenüber dem Rest des
Feldes nicht allzu groß. Lance rechnete vor, dass er Zülle in der Gesamtwertung
der letzten Tour nur um 1 : 34 Minuten distanziert hatte – wenn man den frühen
Massensturz auf der Passage du Gois einmal ausklammerte. Und wäre die Fahrt
nach Sestriere nur drei Kilometer länger gewesen, hätten Zülle und die anderen
ihn noch eingeholt. Der zweite Faktor war, dass die beiden großen Favoriten,
die bei der Tour 1999 gefehlt hatten, jetzt wieder dabei waren: Jan Ullrich und
Marco Pantani.
Ullrich hatte etwas von Superman – oder, um es genauer zu sagen, von
Superboy. Sein Grundlagentraining hatte er in der DDR erhalten, wo die Trainer nach der Maxime vorgingen: Wirf ein
Dutzend Eier gegen die Wand und behalte die, die nicht zerbrechen. Ullrich war das unzerbrechliche Ei, ein Kind des Kalten Krieges, das, ebenso
wie Lance, vaterlos aufgewachsen war und mithilfe des ostdeutschen Staates
seine Energie in den eindrucksvollsten Körperbau der Radsportgeschichte
investiert hatte. Ullrichs Körper unterschied sich von dem aller anderen
Fahrer, die ich erlebt hatte. Ich versuchte manchmal, neben ihm zu fahren, nur
um ihn beobachten zu können: Man konnte die Bewegungen der Muskelfasern
erkennen. Er war der einzige Fahrer, bei dem ich unter dem Lycrastoff die
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