Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Venen
sah. Auch seine Psyche war nicht schlecht: Ullrich hatte eine bemerkenswerte
Fähigkeit, sich selbst anzutreiben, alles aus sich herauszuholen. Bei der Tour
von 1997 hatte ich beobachtet, wie der erst 23 Jahre alte Ullrich die schwerste
Etappe gewann, die ich jemals gefahren bin, ein Acht-Stunden-Rennen über 242
Kilometer durch die Pyrenäen, bei dem er sogar den bärenstarken Riis abhängte.
Trotz seines eindrucksvollen Körpers war Ullrich ein sanftmütiger Mensch, ein
netter Kerl, der für jeden ein freundliches Wort hatte. Seine Schwäche war die
Disziplin – er kämpfte mit seinem Gewicht –, aber er besaß die Fähigkeit, die
Gunst der Stunde zu nutzen und gerade dann einen unwiderstehlichen Ritt
hinzulegen, wenn alle anderen es am wenigsten erwarteten.
War Ullrich der Superboy, dann war Pantani eher ein Rätsel: ein
kleiner, schüchterner Italiener mit dunklen Augen, der, wenn die Form stimmte,
der beste Kletterer der Welt war. Pantani war eine Mischung aus Künstler und
Killer: eitel genug, um seine auffälligen »Elefantino«-Ohren von
Schönheitschirurgen richten zu lassen, und zäh genug, um Rennen auch bei
miserablen Wetterbedingungen für sich zu entscheiden. Er gewann die Tour 1998
vor Ullrich, nachdem er ihn bei eiskaltem, stürmischem Wetter auf dem Weg nach
Les Deux Alpes hinter sich gelassen hatte. Im darauffolgenden Jahr wurde
Pantani wegen eines zu hohen Hämatokritwertes gesperrt und geriet aus der Spur.
Er fuhr zwei Sportwagen zu Schrott und schrieb offene Briefe an seine Fans, in
denen er von »einer schwierigen Zeit mit zu vielen inneren Problemen« sprach.
Dennoch wollte Pantani seinen Sieg wiederholen, und mit seinen Fähigkeiten als
Kletterer war er gefährlich. Sollte Lance in den Bergen einbrechen, konnte
Pantani das ausnutzen.
Lance sprach dauernd über die beiden. Ullrich und Pantani; Pantani
und Ullrich. Er verfolgte ihr Training, suchte im Internet sogar nach Artikeln
in Zeitungen, die in Frankfurt und Mailand erschienen. Eine Zeitlang besaß
Lance so viele Informationen, dass ich schon dachte, es würde jemand für ihn
arbeiten. Ich sah einen jungen Praktikanten vor mir, der irgendwo in einem
Kabuff Berichte zusammenstellte. Aber nach einiger Zeit begriff ich, dass all
dies von Lance selbst kam. Er musste diese Informationen selbst sammeln, um sie
gleich in Motivation umzumünzen. War Ullrich gut in Form, motivierte das Lance
zu härterem Training. Hatte Ullrich Übergewicht (was in jenem Frühjahr der Fall
war), trainierte Lance ebenfalls härter, weil er dem »Kaiser«, wie die Gazzetta dello Sport Ullrich getauft hatte, zeigen wollte,
wer der Chef war.
Die Tour 2000 glich einer Serie von Boxkämpfen. Der Kampf Lance
gegen Ullrich war ziemlich schnell vorbei. Gleich beim Prolog distanzierte
Lance Ullrich deutlich. Dann verbrachte er ein paar Flachetappen damit, Ullrich
richtig zuzusetzen. Bei einem Radrennen gibt es tausend verschiedene
Möglichkeiten, einen Konkurrenten einzuschüchtern, und Lance kannte sie alle.
Zwanglos plaudern, wenn’s gerade richtig schwer läuft. Einen Happen essen oder
einen tiefen Schluck aus der Trinkflasche nehmen, wenn das Tempo hoch ist – nur
um zu zeigen, dass man das kann. Plötzlich trocken antreten. Außen am Peloton
vorbeifahren, gegen den Wind und mühelos. Lance zeigte Ullrich immer wieder,
wer der Stärkere war. Und Ullrich hatte keine Antworten parat. Beim ersten
schweren Anstieg zum spanischen Skiort Hautacam hinauf hatte Lance Ullrich
bereits in der Tasche.
Lance gegen Pantani war dann eine ganz andere Sache. Pantani war
impulsiv und romantisch, einer, der in einem etwas anders verlaufenen Leben
wohl Stierkämpfer oder Opernstar geworden wäre. Er gab erst Ruhe, wenn er dem
Rennen sein Gepräge gegeben hatte. Lance wollte, dass die Dinge logisch
abliefen, aber Pantani agierte nicht logisch, und Lance hasste das. Pantani lag
zwar einige Minuten zurück, aber wir alle wussten, dass er Lance auf der zwölften
Etappe, die auf dem Gipfel des Mont Ventoux endete, angreifen würde, eben dort,
wo Lance bei der Dauphiné so in Schwierigkeiten geraten war. Das passte zu
Pantanis Vorliebe für Dramen, und es passte auch uns, weil Lance und Johan für
diesen Ort unseren Schachzug geplant hatten.
Nach der elften Etappe fuhren wir in ein Bilderbuchstädtchen namens
Saint-Paul-Trois-Châteaux am Mont Ventoux, wo wir den Ruhetag vor der zwölften
Etappe verbringen wollten. Wir stiegen im Hôtel l’Esplan ab. Es gefiel uns
ausnehmend
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