Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
werden würde. Ich wusste, dass es neue Tests für Blutdoping gab.
Diese sogenannten Off-Score-Tests bestimmten das Verhältnis des
Gesamthämoglobins zum Anteil an jungen roten Blutkörperchen, den sogenannten
Retikulozyten. Je höher der Off-Score-Wert, desto größer war die
Wahrscheinlichkeit einer vor Kurzem erfolgten Bluttransfusion, denn jede
Transfusion führt ja zu einem unnatürlich hohen Anteil reifer Erythrozyten im
Blut. Als normal galt ein Off-Score-Wert um 90; die UCI -Regeln
sahen die Suspendierung eines Fahrers vor, wenn sein Wert 133 überstieg. Ich
wusste, dass ich im April mit 132,9 getestet worden war. Knapp, aber ich war
noch im grünen Bereich.
Hauptsächlich baute ich darauf, dass ich ja nichts tat, was meine
Rivalen nicht auch taten. Ich ließ mir nicht fünf BB s
auf einmal verpassen, ich spritzte das Edgar nicht tonnenweise, und ich
experimentierte auch nicht mit Perflurocarbonen oder anderem abgefahrenen Zeug.
Ich war ein Profi. Mein Hämatokritwert lag unter 50, ich spielte nach den
Regeln.
Das Städtchen Aigle im Kanton Waadt, der Sitz der UCI , liegt in einem malerischen Alpental, das direkt aus
einem Heimatfilm stammen könnte: romantische Almhütten, Bauernhäuser, Weiden.
Das einzige moderne Bauwerk des Ortes, eine Glas-Stahl-Konstruktion direkt
neben einer Kuhweide, entpuppte sich als die Weltzentrale der UCI . Das war schon eine Überraschung; bis dahin hatte ich
mir den Sitz des Weltradsportverbandes immer viel größer vorgestellt, wie es
seiner globalen Bedeutung entsprach, aber hier stand ich vor dem netten
Bürogebäude eines kleineren Unternehmens.
Dr. Mario Zorzoli, der Chefmediziner des UCI ,
empfing mich an der Tür. Zorzoli war ein angenehmer Mensch: offen, lächelnd,
von väterlich-ärztlicher Besorgtheit. Er führte mich herum, und wir schauten
auch in Hein Verbruggens Büro vorbei. Verbruggen freute sich, mich zu sehen.
Nach ein bisschen Smalltalk brachte mich Zorzoli in sein Arbeitszimmer und
schloss die Tür.
»Ihre Blutwerte waren ein bisschen ungewöhnlich«, meinte er. »Gibt
es da etwas, was wir wissen sollten? Waren Sie krank?«
Ich erklärte, ich sei im Frühling krank gewesen, jetzt aber wieder
gesund und sicher, dass meine Blutwerte bald in den Normalbereich zurückkehren
würden. Zorzoli zeigte mir die Laborergebnisse meines Bluttests und erklärte,
sie deuteten auf eine Transfusion von Fremdblut hin. Mein Herz hämmerte, aber
ich blieb äußerlich gelassen – ich wusste, dass ich nur Eigenblut empfangen
hatte. Also erwiderte ich, die Daten müssten fehlerhaft sein, das Ergebnis
könne unmöglich zutreffen, und Zorzoli nickte und meinte, dass es auch andere
medizinische Gründe für die vorliegenden Werte geben könne. Er fügte hinzu, ich
solle mir keine Sorgen machen und meine Rennen wie geplant fahren.
Dann wechselte er das Thema und fragte mich über die Kontrollen
außerhalb der Wettkämpfe aus, wie sie die USADA durchführte.
Er war neugierig, wie das Verfahren geregelt war, und stellte viele Fragen: Wie
benachrichtigten die Sportler die USADA , wenn sie
verreisten? Wie aktualisierte man die Benachrichtigungen? Hatten wir dafür eine
Webseite, eine Faxnummer, oder schickten wir SMS -Nachrichten?
Er erklärte, es gehe darum, dass die UCI in Kürze
eigene Kontrollen außerhalb der Wettkämpfe einführen wolle.
Die ganze Besprechung dauerte 40 Minuten und ließ mich ratlos
zurück. Zum ersten und einzigen Mal in meiner Laufbahn – und, soweit ich weiß,
als einziger Radsportler in der Geschichte – hatte mich mein Weltverband eigens
in seine Zentrale bestellt, als wäre ein extremer Notfall eingetreten. Ich eile
hin – und es passiert eigentlich gar nichts. Seltsam, geradezu eine Antiklimax.
Fast sah es so aus, als wolle die UCI nur sagen
können, sie habe mich einbestellt.
Bei meiner Rückkehr nach Girona fand ich einen Brief der UCI vor, der Zorzolis Warnung wiederholte: Sie würden
mich genau beobachten. Mir fiel auf, dass der Brief vom 10. Juni datierte, dem
Tag des Einzelzeitfahrens am Mont Ventoux. Einige Wochen später verstand ich,
warum.
Mit dem Näherrücken der Tour 2004 wurden meine Werte immer
besser. Ich verlor die letzten Gramm überflüssiges Fett; meine Trikotärmel
flatterten fröhlich im Wind. Ich ließ es locker angehen und achtete darauf,
meine Streichhölzer nicht zu früh anzuzünden. Die letzten Tage in Girona waren
erfreulich friedlich: Lance war mit Ferrari irgendwo in den Pyrenäen, und
einige
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