Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring

Titel: Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
Vom Netzwerk:
schien der wuchtige Tragkörper, der den Hauptteil der Bassett ausmachte, nicht mehr als ein kleines Blatt zu sein, das auf einem dunklen Weiher trieb.

6.
    Hethor schwebte frei durch die kühle Abendluft. Der Schmerz in seinen Armen und Beinen ließ sein Inneres zerfasern wie bei einem Seil, das kurz vor dem Zerreißen steht. Er bestand nur noch aus Schmerz, Leid und Furcht – er war allein und sich nur allzu bewusst, dass er die Bassett nie wiedersehen würde. Die Wilden flogen bereits seit Stunden, und die Abenddämmerung setzte ein. Das Luftschiff und die senkrechte Stadt hatte Hethor schon vor langer Zeit aus den Augen verloren.
    Er hatte nie vorgehabt, Matrose zu werden, aber er würde sie alle vermissen, die Lebenden und die Toten. Er hatte Kostbares zurückgelassen, vor allem die goldene Tafel. Und er fragte sich, was Dr. Firkin ihm hatte mitteilen wollen.
    Hethor verbrachte viel Zeit damit, sich erfolglos Gedanken über diese Dinge zu machen, während sie immer höher hinauf in den Abendhimmel stiegen. Seine Entführer flogen sehr schnell, obwohl ihre Flügel ziemlich langsam schlugen. Es kam Hethor beinahe so vor, als würden die Kreaturen von den unsichtbaren Händen Gottes getragen.
    Als es dunkler wurde, erkannte er vereinzelten Lichtschein auf der Oberfläche der Mauer – Lagerfeuer vielleicht, oder Siedlungen; er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Einige dieser Lichter flackerten, was vermutlich daran lag, dass seine Entführer einen Wald überflogen, der den Blick auf die Feuer immer wieder verdeckte. Andere hingegen strahlten so hell und klar, wie es nur ordentliche englische Electricität zustande brachte.
    Als die Nacht hereinbrach, beschlossen die geflügelten Wilden, auf einem Felsvorsprung zu landen. Er war ziemlich schmal, vielleicht doppelt so breit wie ein Feldweg. Das Gestein verschwand zu beiden Seiten in der Dunkelheit, sodass Hethor nicht erkennen konnte, ob die Felsleiste ein Ende hatte. Ohne Zweifel war der einzige Fluchtweg ein Sprung in den Abgrund, denn seine Entführer waren schlau und hatten mit Sicherheit einen Ort gewählt, der von ihren Feinden nicht so leicht angegriffen werden konnte. Und Hethor hatte keine Zweifel, dass diese Monster Feinde hatten.
    Genau ein Dutzend von ihnen ließ sich auf dem Felsvorsprung nieder. Sie hüllten sich in ihre großen, zerlumpten Flügel und schliefen ein. Es wurden keine Worte gewechselt, keine Mahlzeit bereitet. Es gab nichts, was auf eine Verwandtschaft der Wilden mit den Menschen hingedeutet hätte, abgesehen von ihren Körpern und Gesichtern.
    Hethor achtete darauf, dass er sich stets auf festem Gestein befand, als er an den Rand seines kleinen Reviers rutschte. Dieser Rand besaß eine messerscharfe Kante, als hätte ein Erdrutsch oder eine andere Naturgewalt ihn sauber abbrechen lassen. Direkt am Abgrund ließ Hethor seine Finger über den Fels gleiten, während er über das Wolkenmeer hinwegschaute, das sich nach Norden über die Bucht von Benin erstreckte.
    Er schätzte, dass er sich mindestens drei Meilen über dem Meeresspiegel befand, aber die Luft hier war nicht so dünn, wie die anderen Matrosen es immer behauptet hatten, wenn sie von ihren Schlachten mit den Chinesen in solchen Höhen erzählten. Das lag natürlich an der Mauer. Als Gott die Getriebe Seiner Schöpfung erschaffen hatte, musste er eine Kraft verwendet haben, die hier oben die Dichte der Luft erhöhte.
    Aber warum?
    Es konnte nur eine Antwort darauf geben: Damit Menschen auf der Mauer leben konnten. Warum das so war, leuchtete Hethor allerdings nicht ein. Vielleicht, um Gott näher sein zu können?
    Als Hethor an Menschen dachte, warf er einen Blick über die Schulter und betrachtete seine Entführer unauffällig. Ihre Gestalt ähnelte der Gabriels, aber ihre grässlichen Tätowierungen und die sehnigen Körper hatten nichts mit Gabriels makellosem, perfektem Äußeren gemeinsam. Im Gegensatz zu Gabriel oder Hethor selbst schienen die Kreaturen überdies stumm wie Fische zu sein. Hethor fragte sich, wie sie miteinander kommunizierten. Wie brachten sie sich gegenseitig das Kämpfen oder Schwertschmieden bei? Gab es irgendwo geflügelte Mütter, die hässlichen kleinen Cherubim in ihren steinernen Wiegen lautlos Schlaflieder sangen?
    Hethor kam ein Gedanke: Die Menschen waren als Abbild Gottes erschaffen worden; die geflügelten Wilden hingegen schienen ein Abbild der Engel zu sein – eine niedere Schöpfung, die ein niederes Vorbild nachzuahmen

Weitere Kostenlose Bücher