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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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erfülle die mir gestellte Aufgabe. Der Premierminister hat mich damit beauftragt, und ich wurde angewiesen, vor Ihrer Kaiserlichen Majestät zu erscheinen.«
    Der Mann begann zu kichern, ein seltsam hohl klingendes Geräusch, das mehr nach einem Schluchzen als nach Lachen klang. »Nun, dann wirst du vor der Königin erscheinen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging auf die nächste Doppelflügeltür zu. Kitchens fiel auf, dass schwere Schleifstellen sauber überpoliert worden waren. Der Schotte ging mit schweren Schritten über einen Boden, über den etwas Schweres mehrfach entlanggezerrt worden war.
    Die Flügel wurden aufgestoßen. Der Mann des Clans MacGregor winkte ihn durch den schweren Brokatvorhang hindurch, der den Blick auf den Raum versperrte. Kitchens konnte sich alles in der Dunkelheit hinter dem Brokatvorhang vorstellen – Pistolen, Schwerter, Fallstricke, Fallgruben, Schlangen. Doch der strenge Geruch, der ihm aus dem Raum hinter dem aufwendig verzierten Stoff entgegenschlug, erinnerte ihn vielmehr an verwesende Leichen.
    Dennoch trat er durch den Vorhang und verspürte zum ersten Mal seit Jahren wieder Angst.

Zwei
    Und was sagst du dazu, dass Gott die Gefäße,
die zur Vernichtung in seinem Zorngericht bereitgestellt sind,
mit großer Geduld erträgt?
    Römer 9:22
    Boas
    Die chinesischen Luftmatrosen kämpften sich durch die öde und von der Sonne verbrannte Landschaft. Säulenartige Gebilde aus hellem Fels, die mit einem dunklen, überhängenden Schlussstein versehen waren, erhoben sich gut drei Meter in die Höhe. Alles war mit weißem Flaum übersät, und Boas brauchte einige Zeit, bis er begriff, dass es sich um Salz handelte. Die Sonne brannte gnadenlos auf sie herab und erwärmte nicht nur seine Messinghülle, sondern sogar die Kristalle in seinem Kopf.
    Chin Ping stapfte direkt hinter Boas her.
    »Ich kann mich an mehr erinnern«, sagte der Messingmann laut, auch wenn es ihm schwerfiel.
    »Mehr, hm?«
    »Dinge, an die ich mich eigentlich nicht erinnern sollte.«
    »Ist ein Echo«, meinte Chin Ping.
    »Ein Echo«, murmelte Boas. Der Chinese hatte damit vielleicht nicht unrecht.
    Er war in seinem ganzen Leben, das mittlerweile mehrere Jahrhunderte andauerte, noch nie an diesem Ort gewesen, und doch kam er ihm merkwürdig vertraut vor. Als ob er sich mit jedem Schritt einer längst vergessenen Heimat näherte.
    Doch er war überhaupt nicht in der Lage , etwas zu vergessen. Man konnte ihm seine Erinnerungen stehlen – eine schmerzliche Erfahrung, die nach Paolinas Beweisen aber unumgänglich als Tatsache angesehen werden musste –, doch sie konnten ihm nicht einfach entgleiten, wie es bei den Menschen die Regel war. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was ihm das Mädchen dazu gesagt hätte: »Finde es heraus, finde deinen eigenen Weg, entdecke das, was man vor dir verborgen hat.«
    Paolina hätte es vermutlich anders formuliert, aber die Bedeutung wäre dieselbe gewesen.
    »Manchmal kommen Geister«, fügte Chin Ping zu Boas’ Überraschung hinzu. »Kommen und lassen Gedanken in Kopf zurück.«
    Der Geist eines Wesens, das er nie gewesen war. Natürlich waren alle Messingmenschen dieselben, von den ersten Hammerschlägen in der Schmiede, die die weise Macht König Solomons als ihren Geburtsort bestimmt hatte. Messing waren Messing; auch wenn sie sich in ihren Funktionen und Pflichten unterschieden, so waren sie immer aus einem Metall – ein Schwert in der Hand eines legendären Königs, verbunden durch die Siegel, die in ihren Köpfen glühten.
    Sem , das Wort von JHWH.
    »Ich glaube, dass du recht hast«, sagte Boas zu Chin Ping. »Ein Gedanke wurde in meinem Mentarium hinterlassen.«
    Sie schleppten sich über das zerklüftete, unebene Gelände weiter, bis die Felssäulen von Dünen ersetzt wurden, die leidenschaftsloses Gras im Boden verankerte. Nicht weit von ihnen entfernt glitzerte der Ozean.
    Chin Yuen bellte Befehle. Einige Männer rannten die Strecke zurück, die sie gekommen waren, während andere in Richtung Ozean rannten, um den Weg auszukundschaften.
    Boas stand regungslos da und genoss die Wogen der Erinnerungen, die über ihm zusammenschlugen.
    Ein Schiff. Bauchig, kantig und so langsam wie die Handelsschiffe, die aus purem Stolz nicht vor Piraten flüchteten.
    Ein Sturm. Wellen, die sich so hoch türmen, dass sie einer gottlosen, respektlosen Flotte Glauben und Respekt einbläuen würden.
    Eine Küste. Opfer der Gezeiten, felsdurchzogen und schon seit den frühesten

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