Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
anders, schließlich war dies immerhin die Mauer – hier eine Siedlung angelegt hatten, aber Paolina hatte sonst keinen weiteren Hinweis auf sie entdecken können. Der Strand bestand aus Lehm und Sand. Sie hatte Ming dabei geholfen, das Boot an Land zu ziehen und es zwischen dichtem Strauchwerk zu verbergen, auf dem wächserne weiße Beeren wuchsen. Dort hatten sie einen Schwarm hellblauer Schmetterlinge aufgeschreckt, von denen jeder so groß war wie ihre Hand.
Wie hatte die Mauer ausgesehen? Unvorstellbar hoch, eine steinerne Begrenzung des Himmels, aber an Details konnte sie sich nicht erinnern. Selbst der Weg, den sie eingeschlagen hatten, fiel ihr nicht mehr ein. Aber vermutlich war der auch nicht ungewöhnlich gewesen, denn sonst könnte sie sich ja an ihn erinnern. Sie hatten sich eine Zeit lang durch einen Wald kämpfen müssen, bis sie einen Wildpfad entdeckten, der sie auf die Spitze eines zerbröckelnden Felsvorsprungs gebracht hatte.
Sie erinnerte sich sehr genau an diesen Ausblick, als sie Richtung Norden ferne Inseln im flaschengrünen Meer erblickte. Von dort oben hatte der Strand viel hübscher gewirkt; ohne den Algengestank und die verfaulenden Überreste zerbrochener Krabben.
»Ich glaube, ich kann mich gut genug an diesen Ort erinnern«, meinte Paolina. »Allerdings weiß ich nicht, ob unser Boot noch da ist und ob Ming es benutzen kann.« Wie war sie bloß hierhergekommen, als sie das gefährliche Festmahl auf dieser Bergspitze fluchtartig verlassen hatten? Was, wenn in diesem Augenblick ein Engel auf den Straßen Londons stand oder auf den Mondbergen? Konnte sie wirklich so einfach von einem Ort an einen anderen wechseln?«
»Wir durchschreiten die Schweigende Welt«, sagte Gashansunu, »damit wir wissen, wohin wir gehen. Ich könnte mit nur einem Schritt nach Hause zurückkehren, denn ich kenne meine Stadt und die Räume des Hauses des Westens so gut wie meine Westentasche. So ist es auch bei dir, wenn du diesen Ort gut kennst.«
»Was, wenn ich mich täusche? Werde ich in der Nähe landen?«
»Die Schweigende Welt ist größer als die Schattenwelt. Du könntest an einem jener Orte landen, der keine Schattenseite kennt, und in der stillen Finsternis verloren gehen.«
Paolina wusste aber genau, wohin sie gehen wollte. Sie konnte sich an zahlreiche Plätze sehr gut erinnern. Ihre kleine Kajüte an Bord der Star of Guinea . Der Kathedralsplatz in Straßburg. Das Deck der Notus . Praia Nova, madre de deus ; aber die doms sollten sich in Acht nehmen, wenn sie jemals mit ihrer Macht in Händen zurückkehren.
Paolina verdrängte diesen Gedanken und den Zorn, der mit ihm in ihr aufwallte. Wenn sie doch nur um den Aufenthaltsort von Boas wüsste, dann könnte sie unmittelbar zu ihm gehen.
Es ging nicht darum, dass der Messing Lebenserfahrung aufzuweisen hatte. Nein, sie hatten sich einfach nur auf eine sehr ruhige Art verstehen gelernt. Sie bedauerte es sehr, ihn in diesem Expeditionslager an der Mauer zurückgelassen zu haben. Dort würde sie mit ihrer Suche beginnen, sobald sie Ming sicher auf den Weg gebracht hatte. Von dort aus konnte sie nach Ophir gehen, sollte er sich nicht mehr bei den Eisenbahnern und Tunnelratten befinden. Der Messing würde auf ihren Schimmer nichts geben, ihre Kräfte gingen nur sie selbst etwas an und waren ohnehin viel zu rätselhaft.
Von Ophir aus, wenn Boas nicht auf den Straßen dieses Ortes wandeln sollte oder er sich in diesem schrecklichen Palast der Obrigkeit befand, aus dem Paolina ihn bereits einmal befreit hatte, würde sie einfach ihrem Herzen folgen.
»Ich kenne meinen Weg«, stellte sie fest. »Ming, wir werden Sie zum Boot bringen. Dann werde ich die Orte aufsuchen, die mir meine Wünsche nahelegen.«
»Dann tu das, was wir letzte Nacht getan haben«, sagte Gashansunu. »Nimm sein Handgelenk. Führe es nah an dich heran. Benutze deinen Schimmer auf dieselbe Weise, mit der du in das Baumhaus gelangt bist. Dann betritt den Ort deiner Erinnerungen. Solange du weißt, wohin du gehst, wirst du auch ankommen.«
»Wenn ich mich hart und weit genug gegen die Kraft stemme, dann werde ich auch keine Trümmer zurücklassen oder ein Erdbeben hervorrufen.«
Gashansunu reichte ihr das geflochtene Silberband. Paolina schlang es um ihr und Mings Handgelenk und ergriff dann seine Hand. Mit der anderen hielt sie die Taschenuhr und bediente den Zeiger mit Daumen und Zeigefinger, bis sie die richtige Resonanz gefunden hatte.
Sie erinnerte sich an einen Strand,
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