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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Offensichtlich haben die Briten den Hafen, der hier vielleicht mal gewesen ist, an einen anderen Ort verlegt.«
    »Und darüber beschweren sie sich jetzt, oder was?« Al-Wazir sah sich um und erwartete jeden Augenblick Luftschiffe, die in den Himmel aufstiegen. »Es ist wohl besser, dass wir wie brave Kinder weiter dieses alberne Theater aufführen, anstatt frech auf die Schlachtfelder Ihrer Kaiserlichen Majestät zu marschieren, wo wir doch nicht mal wissen, wie es um unsere eigenen Streitkräfte bestellt ist.«
    Nach einigen Minuten kletterte Childress auf das Deck hinab.
    »Hier ist nichts«, sagte Bai, einer der einfachen Matrosen, auf Chinesisch zu ihr.
    Childress lächelte. »Das hier ist die Schwelle zu England«, antwortete sie.
    Sie trug immer noch die ausrangierten Kleidungsstücke, die man ihr gegeben hatte. Sie hatte sich ihre Haare von Lao Mu zu einem Zopf flechten lassen, und da sie dank reichlich Sonne außerdem einen dunkleren Teint bekommen hatte, hätte man sie in ihrem unförmigen Oberteil und der gerade geschnittenen Hose fast für ein Mannschaftsmitglied halten können.
    Bai legte eine Planke aus, damit sie an Land gehen konnte. Darauf hatten sie sich vorher geeinigt: Wenn sich keine andere Vorgehensweise anbot, würde sie als Erste an Land gehen, etwas auf Chinesisch murmeln und dem lauschen, was möglicherweise auf Englisch gesagt werden würde. Sollten sie hier nur Portugiesisch sprechen, war Paolinas Abwesenheit nur umso schlimmer. Childress’ Gesicht würde natürlich niemanden täuschen, aber sie verließen sich auf die schwache Hoffnung, dass ihre Kleidung sie zu dem Mann machte, der sie nicht war.
    Childress hatte auch kein Problem damit, rotzfrech zu sein, wenn es denn notwendig war. Die Frau, die sie früher gewesen war, hätte das wohl nicht verstanden, aber die vielen stürmischen Monate und die Entbehrungen hatten sie sehr verändert.
    Sie erreichte das Ende des Kais und betrat indischen Boden. Es geschah nichts Besonderes, außer dass ein Esel laut schrie. Childress blickte den Hügel hinauf und sah einen fülligen Mann die Straße hinab- auf sie zureiten. Er hatte einen deutlichen Sonnenbrand und trug schwarze Kleidung.
    Ein Priester, dachte sie, aber ob es sich um einen katholischen Portugiesen oder ein Mitglied der ehrenwerten Church of England handelte, konnte sie nicht erkennen. Childress überlegte kurz, wie es um ihr Verhältnis mit Gott in letzter Zeit bestellt gewesen war, und kam zu dem Schluss, dass sich nicht viel verändert hatte. Das letzte Mal, dass sie ihre Knie zu einem Gebet gebeugt hatte, war in dieser katholischen Kirche in Singapur gewesen, aufmerksam beobachtet von einem Priester, der in Indien geboren worden war. Der junge, leicht gebräunte Mann hatte bei ihr selbst aus der Ferne einen recht aparten Eindruck hinterlassen, wohingegen dieser Kerl auf seinem Esel intuitiv erahnen ließ, dass er überhaupt nicht zugänglich sein würde.
    Einen Augenblick verspürte sie den unwiderstehlichen Zwang, um Gnade zu bitten und der Gefangenschaft auf einem feindlichen Schiff zu entkommen, diesem Gefängnis auf hoher See. Childress musste über sich selbst lachen, und ihre glockenhelle Stille war an diesem warmen asiatischen Morgen deutlich zu vernehmen.
    Sie verwarf den Gedanken und ging entschlossen auf den Priester zu. Sie verließ sich darauf, dass die anderen sich bei dieser Aufgabe auf sie verließen. Wenn sie nach all den Jahren in der Bibliothek der theologischen Fakultät in Yale immer noch nicht mit einem Geistlichen umgehen konnte, dann war ihre Anwesenheit auf der Five Lucky Winds reine Zeitverschwendung.
    Wang
    Wang war nachts zusammen mit den Wasserfässern an Bord der prachtvollen Jacht gekommen. Die Fortunate Conjunction war ohne Rücksicht auf die Traditionen gebaut worden. Die weiß glänzende Farbe und das auf Deck verlegte Teakholz wirkten sehr englisch. Der Kô war seiner konfuzianischen Grundlagen zum Trotz ein zukunftsorientierter Mann. Am kaiserlichen Hof war das äußerst ungewöhnlich.
    Seine Besitztümer in der Bibliothek, die in den vergangenen sechs Jahren sein ganzes Leben gewesen war, hatte er in wenigen Stunden eingepackt. War der Kô erst einmal zu einer Entscheidung gekommen, dann hielt sich auf der Insel jeder exakt daran. Einer der älteren Mandarine war sogar vom zerstörten Palast zu ihm hinabgestiegen, um ihn missbilligend anzustarren. Die Forscher hatten seinen Abschied kaum zur Kenntnis genommen, aber Wangs kleine Armee aus

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