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Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Die Räder der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Majestät! , dachte Kitchens. Sein Herz tat einen Sprung, beruhigte sich aber schnell wieder. Diese Frau war viel zu jung, auch wenn ihre Haare ergraut waren, und hatte eine ganz andere Statur.
    Sie erhob sich, als sie seine Schritte hörte, und hielt ihre Augen zum Schutz vor dem hellen Lampenschein geschlossen. »Ich bedaure es sehr, aber ich fürchte, die Königin ist unpässlich.«
    Es handelte sich also um eine der königlichen Kammerjungfern. Sich an diesem merkwürdigen, stinkenden Ort aufhalten zu müssen ließ ihn vor den möglichen Konsequenzen erschauern.
    »Das ist in Ordnung, Daphne«, sagte Dr. Stewart. »Es handelt sich nur um mich und einen Mann aus London, der vor Ihrer Kaiserlichen Majestät zu erscheinen hat.«
    In diesem Moment erkannte Kitchens, dass die Kammerjungfer ihre Augen gar nicht vor dem grellen Lampenschein geschlossen hielt, sondern dass sich eine dicke schwarze Naht über ihre Augen zog, die wie Igelstacheln abstand.
    Warum dann die Lampe? , fragte er sich.
    Daphne senkte den Kopf, faltete ihre Hände zusammen und wich zur Seite. Kitchens bemerkte, dass sie die Nadel in der Hand behielt. Ein gut ausgeführter Stich damit konnte zu einem Problem werden.
    Dr. Stewart trat in den Lichtkreis, schob den Stickrahmen zur Seite und wandte sich an ein kleines, schwarz glänzendes Viereck, das in die abgerundete Masse eingelassen war, neben der Daphne gesessen hatte. »Eure Kaiserliche Majestät«, flüsterte er mit übertriebener Sorgfältigkeit und sprach besonders deutlich. »Der Admiralitätsbeamte ist vorstellig geworden.«
    Ein leises, kratzendes Geräusch war in der Dunkelheit zu hören, eingebettet in das knisternde Summen eines Lautsprechers. Stewart neigte den Kopf zur Seite, lauschte einen Augenblick lang und nickte dann. »Natürlich, Eure Majestät.«
    Er trat von der kleinen Luke zurück. »Die Königin wird Sie nun empfangen, Beamter.«
    Kitchens hatte wieder Angst, Angst vor der blinden Kammerjungfer mit der Nadel in ihrer Hand, Angst vor diesem Arzt, der wie ein Schlachthaus stank, Angst vor den Überresten einer englischen Monarchin, die in diesem riesigen Sarg mit dem kleinen Fenster untergebracht waren.
    Doch Angst war immer Teil seiner Ausbildung gewesen. Er trat vor, verbeugte sich kurz vor dem Arzt, widerstand dem Verlangen, das Knie zu beugen, und blickte in das glänzende, düstere Fenster.
    Man stelle sich eine Frau vor, die in Salzwasser schwebt, das sowohl in Temperatur als auch Zusammensetzung an das Fruchtwasser erinnert, in dem alle Föten schwimmen. Man stelle sich eine Frau vor, die durch Schläuche in ihrem Hals ernährt wurde, fest zugenäht, damit ihr Mund blubbernd Worte von sich geben kann. Man stelle sich eine Frau vor, die sich in eine walartige Göttin verwandelt hat, deren Verbitterung die Rachegelüste in ihrem Herzen nährt, verursacht durch die mörderischen spitzen Spieße und Wasser teilenden Rümpfe der Landgänger. Man stelle sich eine Frau vor, die mit ihren kranken Gedanken in der Dunkelheit allein gelassen wurde, deren geistige Aktivitäten durch die geschickte Anordnung zahlreicher Rechenmaschinen unterstützt werden, die ihre Ergebnisse mittels Kupferdrähten an die phrenologisch korrekten Stellen auf ihrem rasierten und tätowierten Schädel bringen. Man stelle sich nur ihre Seele vor, die sich gegen den herben Verlust ihres Geliebten und die wachsenden Verpflichtungen des Empire stemmt, im Wissen, dass ein Körper weit über seine vorgesehene Zeit am Leben erhalten werden kann. Doch wie das Leben immer nach Leben strebt, so strebt auch der Körper nach dem Leben, selbst hier, selbst jetzt.
    Wie die Königinnen legendärer Vergangenheiten, als das gesamte Land mit Eis überzogen war, die Sonne nur noch schwach strahlte und ihren Segen der Welt vorenthielt, war sie ihrem Volk zum Orakel geworden. In Strömen aus Blut erbrachte sie ihr Opfer und dachte die Gedanken der Messingmaschinen.
    All dies war Kitchens offenkundig, als er durch das kleine Fenster auf das blasse, aufgedunsene Gesicht blickte, das in einer öligen schwarzen Flüssigkeit schwamm. Ihre ausdruckslosen Augen erinnerten an geschliffene Opale, nur dass diese in Kabelstränge eingebettet waren. Flüssigkeit warf auf ihren bleichen Lippen Blasen.
    Doch die Konturen dieses vom Alter gezeichneten Gesichts waren unverkennbar: Sie war immer noch und würde es immer sein – Alexandrina Victoria.
    »Eure Majestät«, flüsterte er. »Was hat man Euch angetan?«
    Weitere Flüssigkeit

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