Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
drehte er es wieder um.
Die nächste Umhüllung brach in größeren Stücken ab, und selbst mit der vorsichtigsten Berührung war dies nicht zu verhindern. Und so ging es weiter, sieben Mal, wobei jede Schicht weniger spröde, mithin biegsamer war, bis er eine Lederschicht erreichte, die er fast als sanft und weich bezeichnet hätte. Boas fragte sich, wonach sie duftete, denn er konnte an seinen Fingerspitzen schützende Öle spüren.
Der Kohen, der dieses Paket eingewickelt hatte, war davon ausgegangen, dass es die Zeiten überdauern würde, dass es vielleicht sogar für die Ewigkeit gedacht war.
Er hatte die Zeit freigelegt, dreitausend Jahre innerhalb weniger Minuten. Wie ein Wirbelsturm war er durch die Jahrhunderte gefegt und hatte nur mehrere Schichten zerfallenen Leders zurückgelassen.
»Mein Volk nahm hier seinen Ursprung«, sagte er.
»Alle Völker beginnen irgendwo«, antwortete Chin Ping leise.
Boas verstand dies als Hinweis und schob die letzte Lederschicht beiseite.
Dahinter versteckte sich ein kleines Buch, das in flache Holzstreifen geschlagen und mit blauen und weißen Fäden gebunden war. Außerdem ein kleiner Beutel aus verschlissenem Stoff, in dem sich etwas Flaches und Schweres befand. Boas hatte Angst vor dem, was er enthalten könnte.
Er legte den Beutel auf den Altarstein neben die Überreste der Lederverpackung und widmete seine Aufmerksamkeit zuerst dem Buch. Die Holzstreifen bestanden aus gepressten Fasern, die man mit Leim zusammengefügt und an der rechten Seite gebunden hatte. Er strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Buchdeckel und fragte sich, ob auch dieser nach all den Jahrhunderten unter seiner Berührung zu Staub zerfallen würde.
Doch die Geschichte weigerte sich, ihr Opfer zu verlangen. Das Buch blieb fest und ganz in seinen Händen. Vorsichtig hob er den Deckel.
Worte.
Worte im Hebräischen, das am Hofe König Salomons gesprochen worden war. Geschrieben in einer schwer zu entziffernden Handschrift, mit heller, verblichener Tinte, die auf Entbehrungen und Katastrophen schließen ließ, obwohl der Text dem herrlichen Leser alles verhieß, das bescheidene Dasein des Verfassers hervorhob und über die geheimen Mächte fremder Königreiche sprach.
»Was stehen?«, fragte Chin Ping.
»Es ist eine …« Boas versuchte, den passenden Begriff zu finden. »Es ist eine Formel. Im Stil der Herolde des Tempels. Eine Methode, mit der ein schwieriges Thema angesprochen werden und eine mögliche Beleidigung des Gegenübers auf ein Minimum reduziert werden kann.«
Chin Yuen murmelte schnell und leise einige Worte auf Chinesisch. Dann sagte Chin Ping: »Sag uns bitte, was schwieriges Thema ist.«
»Das weiß ich noch nicht«, lautete Boas’ schlichte Antwort. Er blätterte weiter und überflog die Seiten. Eine Beschreibung von Salomons Hof, von jemandem, der dort gelebt hatte. Der Aufbruch der Flotte von Esion-Geber. Stürme auf dem Ozean. Ihr Schiffbruch an der afrikanischen Küste. Eine Ratsversammlung am Strand. Der Priester spricht im Text zum ersten Mal von sich selbst. Der Admiral im Todeskampf und die Prophezeiung des ersten Messing. Die Entscheidung, gewisse Kenntnisse zu verbergen, damit sie nicht auf ihrer Reise an Wilde oder durch ein grausames Schicksal verloren gehen können.
Und nicht zuletzt das Wissen selbst …
Er hielt inne, und seine Hände zitterten. Die Herstellung eines Siegels.
In der gesamten Geschichte Ophirs hatte es nur sechs Siegel des Salomon gegeben. Ein jeder Messing, der jemals gelebt hatte, war vom ersten Siegel mit Energie versorgt worden. Alle Gebäude der Stadt und die Grenze des Imperiums in den Jahrhunderten seiner größten Ausdehnung verdankten dem Zweiten ihr Dasein. Das Dritte ließ Feuer durch die Speere und andere siegelbasierte Waffen fließen, mit denen die Messing die Welt erobert hatten. Das Vierte trieb die Wagen an, die ratternd tief unter der Mauer hin- und herfuhren. Das Fünfte ließ es regnen und gebot dem Regen Einhalt. Das Sechste und Letzte sollte alle Wege der Erde dem träumenden Geist von JHWH eröffnet haben, doch selbst bei ihrer sagenhaften Erinnerung konnte sich kein lebender Messing mehr daran erinnern, was diese Worte zu bedeuten hatten.
Doch niemand hatte jemals ein neues Siegel erstellen können. Im Lauf der Zeit war das notwendige Wissen durch Fehler und Ungeschick – und ein einziges Mal durch grausames, brutales Unheil – verloren gegangen, bis nur noch ein Siegel übrig geblieben war: das
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