Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
hören konnte, und die ihren Reiz immer noch auf sie ausübte, selbst wenn Paolina ihre Augen schloss und ihre Ohren mit den Händen bedeckte.
»Dies ist furchtbar«, sagte Ming schließlich.
»Glaubst du das wirklich?«, fragte sie leise.
»Ja.« Er drehte sich um und kam zu demselben Schluss wie sie, außer dass er sofort nach möglichen Bedrohungen Ausschau hielt, nach Möglichkeiten, nach Gefahren, die sie unversehens das Leben kosten konnten.
»Ah«, sagte Ming und trat auf eine der Banyan-Feigen zu, die sie umgaben. Er griff in den Schatten ihres knorrigen Stamms und zog eine Feder hervor.
Sie war einen knappen Meter lang und hell wie die Haut eines Albinos.
»Der Engel«, platzte es aus Paolina heraus, und Erleichterung machte sich in ihr bereit. Sie war nicht sosehr daran gewöhnt, anderen zu folgen. »Er hat uns ein Zeichen hinterlassen.«
»Sie könnte auch von einem sehr großen Vogel stammten.« Ming überreichte ihr die Feder.
Sie fasste die Armschwinge am Federschaft und drehte sie in ihrer Hand um. Sie wirkte aufgrund ihrer beachtlichen Größe wie ein Schwert, obwohl sie nur einen Bruchteil dessen wog, was eine Waffe auf die Waage bringen würde. Der Schaft war hohl wie bei einer Vogelfeder. Die Fahnen schillerten in Regenbogenfarben, denn kleinste Unregelmäßigkeiten sorgten dafür, dass sich das Licht an ihnen brach und unvorstellbare Schönheit hervorzauberte.
Sie bemerkte, dass die Feder noch körperwarm war. »Wir gehen in diese Richtung«, sagte sie zu Ming und deutete auf die Banyan-Feige, aus der er die Feder hervorgeholt hatte. »Wir sind ganz nah.«
Er betrachtete den dichten Wald dahinter und zuckte mit den Achseln. »Ich habe keine …«, sagte er und verwendete dabei ein Wort, das sie nicht kannte. Als sie ihn verwirrt ansah, fügte Ming hinzu: »Ich habe kein Messer, das groß genug dafür ist.«
Wenn die Feder tatsächlich ein Schwert gewesen wäre, dann hätten sie sich damit einen Weg bahnen können. Nun mussten sie sich wie die Bewohner des Waldes aus eigener Kraft hindurchkämpfen.
Das hatte auf seine Weise etwas von Demut. Der Dschungel würde gnadenlos sein, denn das war seine Natur, aber sich ihm demütig zu nähern wäre besser, als aus falschem Stolz heraus zu handeln.
Demut. Boas wäre demütig gewesen.
Sie verbannte den Gedanken an den Messing aus ihrem Kopf und folgte Ming in die Tiefen des Waldes.
Schnell entdeckten sie einen Trampelpfad. Er war zwar recht schmal, aber sie stellte mit Erleichterung fest, dass sie aufrecht auf dem Weg gehen konnte, ohne Angst vor dem gierigen, klebrigen Griff des Walds haben zu müssen. »Ein Wildpfad?«, fragte sie.
Ming sah sie an und hatte ihre Frage offensichtlich nicht verstanden.
»Haben Tiere das hier angelegt?«, sagte Paolina zur Erklärung auf Chinesisch. »Ich glaube nicht.«
Er grunzte. »Personen. Oder große Tiere mit gleichen Absichten.«
Sie hielt die Feder wie einen Zeiger am ausgestreckten Arm vor sich. Links, dann rechts. Rechts, dann links. Nach drei Versuchen kam Paolina zu dem Schluss, dass der rechte Weg die Feder stärker hatte erzittern lassen. Wenn sie den Einstrahlwinkel der Sonne bedachte, dann musste der Weg ziemlich genau nach Westen führen.
»Dort entlang«, sagte sie. »Wir gehen nach Westen.«
Nach nicht allzu langer Zeit kamen sie zu einer Erhöhung, einem flachen Bergrücken, der sich aus dem grünen Meer emporschwang und damit das Leben, die Erde und den Schmutz hinter sich ließ, die die Härte der Welt an dieser Stelle überdeckten.
Sie überquerten den Bergrücken und sahen einen Affen vor sich auf dem Weg stehen. Das Tier reichte Paolina fast bis zur Schulter und ging aufrecht. Es trug außerdem einen dreckigen Lendenschutz und einen Speer.
Also kein Affe. Zumindest nicht so richtig. Das Wesen wirkte auch nicht bedrohlich. Es stand einfach nur in ihrem Weg und starrte sie an.
Ming warf ihr einen Blick zu. Paolina nickte und flüsterte ihm zu: »Ich kümmere mich darum.« Sie trat an dem Chinesen vorbei an den Affen heran. Dann breitete sie die Arme zu einem Willkommensgruß aus und um zu zeigen, dass sie keine Waffe trug, außer der zitternden Feder, die sie festhielt. Sie lächelte, achtete dabei aber darauf, keine Zähne zu zeigen.
»Freunde«, sagte sie leise auf Portugiesisch, ihrer Muttersprache. »Reisende.« Dann wiederholte sie diese Worte auf Chinesisch und Englisch und hielt die Feder hoch, als ob sie ein Beweis für ihre friedfertigen Absichten sei. Währenddessen
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