Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
Frau gereift war, hatte das Leben Paolina bereits mit Erfahrungen überschüttet. Es schien ihr daher, dass die Dinge, die ihr die größten Schmerzen bereiteten, auch ihre ältesten Freunde waren.
Zumindest sah es so aus, wenn man sein Leben vom Boden einer Holzschüssel betrachtete, die eben noch mit Papaya-Wein gefüllt gewesen war. Das süße, klebrige, gelbe Getränk kitzelte sie am Rachen und ließ ihre Gedanken auf eine Art herumschweifen, der sie sich in der Regel nicht hingab.
Ist das die Befreiung der Gedanken, nach der sich die fidalgos Praia Novas so sehr sehnten, jedes Mal, wenn sie sich mit bagaceira betranken? Sicherlich übte dieser Zustand eine große Anziehungskraft aus, aber ihr waren die damit verbundenen Probleme nur zu bewusst.
Kalker gesellte sich zu ihnen. Paolina konnte sich nicht daran erinnern, ob sie im Lauf des Abends mit ihm schon ein Wort gewechselt hatte. Das flackernde Feuer und die surrenden Insekten schienen sie aus dem Hier und Jetzt herausgelöst zu haben. Boote auf dem Fluss bewachten die Grenzen der Zeit, die in diesem endlosen Kreis verging, der ihr so sicher schien. Dieser Kreis, wo sie immer zu Kalker sprach, immer Ming zuhörte und in dem es keinen Unterschied zwischen dem einen Moment und der Unendlichkeit des Nächsten gab.
»… mit einem Boot auf den Weg machen«, sagte der alte Mann des vergessenen Volks gerade. »Auf dem Fluss ist es noch am sichersten.«
Paolina konzentrierte sich darauf. »Was ist mit den Krokodilen?«
»Das sind große Biester mit Zähnen, die dich unter Wasser ziehen. Sie sind Kinder der Gewässer, genauso wie es die Aale und Fische und Wasservögel sind. Wie dem auch sei, ich glaube, die Welt will, dass du weiterreist. Du verfügst über eine große Macht, die dich nicht nur vorantreibt, sondern auch schützt.«
»Schimmer. Die Krokodile können meinen Schimmer sehen.« Sie fragte sich in diesem Augenblick, wo Karindira und ihre Höhlenfrauen waren. Hatte ihr Volk auf dieser Seite der Mauer Städte?
»Die Welt will dich. Er schickt dich dorthin, wo du benötigt wirst. Dein Vorankommen wird begünstigt werden.«
Nach Paolinas Erfahrungen wurde ihr Vorankommen niemals begünstigt, ganz im Gegenteil. »Die Welt will mich nicht«, stellte sie fest. »Ich habe mich als über alle Maßen böse erwiesen.«
»Die Welt richtet nicht, Frau des Nördlichen Volks. Sie existiert einfach. Was wir in den Grenzen dieser Welt tun, ist unsere Angelegenheit. Unser Tun steht allein zwischen uns und dem Schöpfer. Du trägst einen Schimmer.«
»Das ist keine Entschuldigung«, brüllte sie und warf ihr Holzbrett mit Essen von sich.
Ming berührte sie leicht am Arm, vermutlich, um sie zu beruhigen, aber Paolina wollte nichts davon wissen. Sie nahm einen tiefen Schluck aus der wieder gefüllten Weinschale und versuchte, ihre Gedanken wieder in eine sinnvolle Ordnung zu bringen.
Kalker sprach sanft und leise weiter. »Es gibt keine Entschuldigung. Es gibt nur Verantwortung. Glaube ja nicht, dass deine Seele nicht für all deine Taten aufkommen muss. Und selbst wenn sie am heutigen Tag nicht gut dasteht, so entlässt dich dies nicht aus deinen Verpflichtungen gegenüber der Welt, gegenüber dem Leben selbst. Du magst an einem Tag Böses anrichten und am nächsten dennoch den Zielen der Schöpfung dienen.«
»Ich habe Böses angerichtet, als ich den Schimmer erschuf.« Sie erinnerte sich an Hethors Worte und an die von Childress und al-Wazir an Bord der Five Lucky Winds . »Das Schlimmste jedoch ist, dass ich überhaupt erst bewiesen habe, dass sich diese Taschenuhr bauen lässt. Wenn ein Ding erst einmal erschaffen wurde, dann gibt es mehr als genügend Gründe, es erneut zu tun; zumindest glauben das viel zu viele auf unserer Welt.«
Kalker schüttelte den Kopf. »Glaubst du etwa, du wärst die Erste, die solche Gewalten entfesselt hat? Gott hat eigenhändig die Schlange in den Garten gesetzt, am Anbeginn der Zeit. Menschen haben Feuer erschaffen, mit denen sie ganze Städte auslöschen könnten.«
»Ihr lebt in einem Dschungel.« Sie sprach wieder viel zu laut. »Was wisst ihr schon von Städten!?«
»Ich weiß, dass ich eine einfache Person bin, die sich Gedanken über Dinge macht«, antwortete der alte Mann. »Ich weiß, dass meine Kinder in die weite Welt hinausgegangen sind, und nur eines ist zurückgekehrt. Ich weiß, dass ein Prophet unter uns lebt, der entsetzliche Angst davor hat, wir könnten herausfinden, dass er bloß ein verängstigter Junge
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