Die Räder des Lebens
Berge im Osten geschafft, aber die Morgendämmerung verlieh den letzten nächtlichen Schattenspielen Tiefe und kräftige Farbverläufe. Unter ihnen befanden sich Gemeinden, die nicht groß genug waren, um schon über Electricität zu verfügen, mit der sie die Dunkelheit hätten vertreiben können. Auf den Dachziegeln glitzerte der Morgentau.
Es war hier oben auch sehr kalt. Ihr war kälter als je zuvor auf dieser Reise, oder, um genau zu sein, so kalt wie noch nie in ihrem Leben. Paolina bemerkte, dass sie zitterte. Ihre Zähne klapperten, und ihr Körper fühlte sich merkwürdig taub an.
Sie war den Matrosen aus dem Weg gegangen wie sie ihr, aber das war zu viel. Sie schlich sich zum Vorderdeck und glitt durch die Luke hinunter zu ihrer kleinen Kabine. Sie hatte während ihrer Fahrt über Afrika die meiste Zeit an Deck geschlafen, aber Europa war zu kalt und feucht. Unter Deck warteten Decken auf sie, und dort blies auch kein schneidender Wind.
Irgendwann schlief sie ein.
»Wir befinden uns über Straßburg«, sagte Bucknell und weckte sie damit. Er beugte sich durch den Türrahmen, ohne ihre Kabine tatsächlich zu betreten. Er wirkte missmutig und hatte ein fürchterliches blaues Auge.
Paolina fragte ihn nicht danach. Sie wollte nicht fragen. Das würde bedeuten, dass sie sich um Bucknell und sein Schicksal sorgte. Er war einfach nur ein weiterer Engländer.
»Soll ich an Deck kommen?«
»Kann ich nich’ sagen, Madam, da ich ja nur ein verkrüppelter Schwachkopf bin.« Er spuckte auf den Boden. »Der Kapitän wäre aber wohl nich’ so begeistert, wenn Sie nich’ auftauchten.«
»Vielen Dank«, sagte sie, fast wie aus einem Reflex heraus. Und dann sprach sie ihn doch spontan an: »Bucknell, ich möchte mich entschuldigen. Sie sind nicht für meine Probleme verantwortlich, und es war unfair von mir, Sie derartig anzugreifen.«
Eine Hand strich behutsam über sein Auge. »Hauptfeldwebel Rosskamp hat mich angegriffen. Sie haben mich ja nur Ihre böse Zunge spüren lassen.«
»Nun, das tut mir auch leid.«
Vielleicht hatte der Schlaf sie weich werden lassen oder die Erkenntnis, dass sie einen Ort erreicht hatten, der so unglaublich weit von der Mauer entfernt war. Welche Pläne Sayeed auch verfolgen mochte, die Schwilgué-Uhr befand sich hier. Der Chronometer zählte die Stunden im Herzen der menschlichen Existenz, wenn sie auch nur die Hälfte von dem glauben durfte, was der Kapitän über diese wundervolle Maschine gesagt hatte.
Sie war auf dem Weg zu dem Ziel, das sie schon immer hatte erreichen wollen – in Begleitung von Zauberern, umgeben von großen und mächtigen Dingen, die bedeutsamer waren als alles, was sie jemals an der Mauer hätte entdecken können.
Paolina suchte ihre wenigen Besitztümer zusammen und trat auf die Kajütenleiter. Bucknell ging mit gebeugten Schultern vor ihr hinauf auf das Hauptdeck, als ob sie es noch nie allein hierher geschafft hätte.
Die Notus schwebte über einer Stadt mit vielen Kirchturmspitzen und dickwandigen Gebäuden mit roten Dächern. Eine Kathedrale mit einem Turm beherrschte den Münsterplatz, während sich einige größere Gebäude nur wenige Straßen weiter an Alleen entlangzogen. Ein kleiner Fluss mündete in einen größeren, und die Stadt war umgeben von den artenreichsten und grünsten Hügeln, seit sie die Dschungel am Fuß von a Muralha hinter sich gelassen hatte. Selbst aus der Luft ließ sich ein gewisser Charme verschlungener Gässchen nicht leugnen. Der Krawall, der Marseille heimzusuchen schien, hatte Straßburg einfach ausgelassen. Diese schöne kleine Stadt schien für die Träume von Künstlern geschaffen.
Am Stadtrand standen zwei Ankermasten in einem eingezäunten Feld, auf dem Schafe grasten. Der Stützpunkt machte einen bescheidenen Eindruck – kleinere Gebäude ohne Fenster, die wie Bunker wirkten, zwei große Brennstofftanks und eine Handvoll Männer mit dunklen Hüten, die die landende Notus ausgiebig angafften.
Diese Gruppe Zuschauer erinnerte sie an die Menschen in Praia Nova und daran, wie die fidalgos mit offenem Mund alles anstarren würden, was nicht zu ihrem Alltag passte.
Der Schweigsame Orden und die Schwilgué-Uhr; deswegen war sie hier. Die schwer fassbaren Zauberer, die ein Empire aufgebaut hatten, das die halbe nördliche Welt umfasste, konnten ihr ihre Geheimnisse zeigen. Sie würden sie auf den Weg bringen, den sie, sehr zu ihrer Erschöpfung, früher hatte allein beschreiten müssen. Es spielte keine Rolle, was
Weitere Kostenlose Bücher