Die Räder des Lebens
Uhr.
Sie erreichten den Münsterplatz und blickten direkt auf die Kathedrale, ein riesiges, fast quadratisches Gebäude, auf dessen linker Seite ein Turm gen Himmel wuchs. Die Ausschmückung des Gebäudes wirkte in ihren Augen wie die Arbeit eines Wahnsinnigen, denn Engel und Teufel und Sünder krümmten und wanden sich auf steinernen Flechten, ohne dass das Auge sie richtig ins Blickfeld nehmen konnte. Selbst die merkwürdigen Bauten Ophirs waren schlichter als dieser gigantische Fels aus Mauerwerk, dessen Verzierungen die gesamte Oberfläche zu bedecken schienen.
»Es ist Sonntag«, sagte Sayeed, der das Meisterwerk vor seinen Augen nicht zu begreifen schien. »Wir müssen noch bis zum Frühgottesdienst warten.«
Paolina folgte ihm zu einem Haus, vor dem mehrere noch nicht gedeckte Tische standen. Er nahm zwei der Stühle herunter, und sie setzten sich. Nach einiger Zeit wurde Paolina klar, dass dies ein Restaurant war, ein Geschäft, das ihnen Essen verkaufte, wenn es öffnete. Wenn sie nur das Geld dafür hätte.
Sie warteten.
Das Leben in der Stadt regte sich, und die Zeit verging. Was sie hier sah, gehörte zu den faszinierendsten Dingen, die sie ihrem ganzen Leben hatte beobachten können – es war wie eine Blume, die ein Blütenblatt nach dem anderen öffnete, um sich der Sonne entgegenzustrecken. Jedes farbenfrohe Blütenblatt war hier ein Mensch, der in ihr Blickfeld trat, Fensterläden aufstieß, Markisen herabsenkte, Türen öffnete, Ständer und Eimer und kleine Regale vor die Ladenfronten am Platz schob.
Die Glocken hoch oben in der Kathedrale riefen zu den verschiedenen Gottesdiensten und schlugen außerdem zur jeweils vollen Stunde. Andere Kirchen in der Stadt passten sich dem morgendlichen Rhythmus an, aber sie bemerkte, dass viel mehr Menschen ihren eigenen Angelegenheiten nachgingen, als aus der Kathedrale herauskamen oder hineingingen.
Pferde, Hunde, Jungs, Männer, Frauen, Körbe voll von frischgebackenem Brot, Karren mit Rädern verschiedenster Käsesorten und Kohl – all das zog in einer farbenfrohen, duftenden und wohlklingenden Parade an ihr vorbei, wie die illustre Kulisse eines Stücks, das das bürgerliche Leben lobpreist.
Das alles hier hatte Dickens dazu bewegt, von der Stadt und ihren Bewohnern zu schreiben. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie großartig London sein musste, dieser Ausbund an Handelsgeschick und gesellschaftlichem Fortschritt, der es geschafft hatte, zum Zentrum des Empire zu werden.
Wenn sie zum Himmel aufsah, konnte Paolina sogar die Erdumlaufschiene erkennen, deren Band diese Stadt und ihre heilige Kathedrale mit dem Himmel verknüpfte.
Schließlich trat eine plumpe Frau in einem warmen schwarzen, mit schwarzer Spitze verbrämten Kleid aus dem Haus und begann, die anderen Stühle herunterzunehmen. Sie arbeitete um sie herum – Sayeed achtete überhaupt nicht auf sie, die Frau wiederum ignorierte Paolinas neugierige Blicke. Leinendeckchen erschienen auf den kleinen Eisentischen (auch ihrem), und dann kleine Schüsseln mit Zucker, Salz und Sahne. Kurze Zeit später folgten Gabeln und Messer und zum Schluss, obwohl sie gar nicht darum gebeten hatten, eine Kanne Kaffee und ein Körbchen mit Gebäck.
Sie nahm ein Stück heraus. Es handelte sich um einen blättrigen Halbmond mit einer dicken Mitte und schmalen Enden, der weniger wog als jedes Stück Brot, das sie jemals in ihrem Leben in der Hand gehabt hatte.
»Croissant«, sagte Sayeed zu ihr, sein erstes Wort, seitdem sie sich hingesetzt hatten. Während sie das blühende Leben auf dem Platz beobachtet hatte, hatte er stur auf die Kathedralentür gestarrt.
Paolina lächelte, und sie war in diesem Augenblick zu glücklich, um selbst auf diesen Mann wütend zu sein. »Und Kaffee.«
»Hm.« Er goss sich eine Tasse ein und nahm einen Schluck. »Wenn der nächste Gottesdienst beendet ist, gehen wir zur Kathedrale hinüber. Dort wird jemand auf uns warten, der uns zu den Schweigsamen Vätern führt.«
Paolina hoffte, dass es Lachance sein würde. Das wäre eine kleine Demütigung für Sayeed, der das wohl verdient hätte.
Ein Zwiebelverkäufer entdeckte sie, als sie sich der Kathedrale näherten. Er trug ein zerknittertes blaues Kleidungsstück, das seinen gesamten Körper bedeckte und nicht wie üblich aus zwei Teilen, aus Hose und Hemd, bestand. Er trug einen Korb mit sich, der streng nach seinen Waren und feuchtem Lehm roch.
Der Zwiebelverkäufer gab Sayeed ein Handzeichen, der ihm auf dieselbe Art
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