Die Räder des Lebens
und … andere Vergnügungen … im Hafen mussten unwiderstehlich für sie sein. Es gab genug Beschwerden der englischen Matrosen über die unzuverlässigen, unfähigen Franzosen, um nachvollziehen zu können, warum sie wieder an Bord kamen, aber die Seeleute vom Festland waren eine andere Geschichte.
Sie legten bei Abenddämmerung ab. Die kühle Luft eines Oktoberabends erwartete sie. Als die Notus aufstieg, konnte Paolina nur Wolken und noch mehr Wolken sehen, die den Blick auf die Umlaufschienen des Mondes, der Erde und der weit entfernten Venus verbargen, wenn sie sich nicht gerade für kurze Augenblicke teilten.
Die Lichter der Stadt verschwanden bald in der Dunkelheit. Das pulsierende Glühen der Innenstadt, als ob ein Hochofen die Metropole antrieb, ließen sie zuerst hinter sich. Dann erloschen die glitzernden Knotenpunkte der näheren Umgebung mit ihren abgelegenen Dörfern unter ihnen, bis sie finstere ländliche Gegenden erreichten, die gelegentlich vom Lagerfeuer eines Schäfers erhellt wurden.
In Marseille lebten mehr Menschen, als Paolina sich hatte vorstellen können. Ihr Verstand sagte ihr, dass die Welt durchaus Platz für Milliarden bot, solange sie nur genügend zu essen und eine Unterkunft hatten. Aber sie war davon ausgegangen, dass diese Städte größere Ausgaben von Praia Nova wären, ähnlich wie es bei Karindiras Steinstadt der Fall gewesen war. Selbst Ophir, das auf eine stolze Vergangenheit zurücksehen konnte, wie Boas ihr berichtet hatte, hatte sich immer noch innerhalb des Rahmens ihrer Vorstellungskraft befunden.
Doch die Menschenmengen dieses ausufernden Molochs waren eine völlig andere Geschichte. Selbst aus der Luft hatte sie mehr Menschen gerochen , als sie sich jemals hatte vorstellen können. Sie versuchte die Länge des Straßennetzes zu berechnen, gab aber auf, als ihr klar wurde, dass über eintausendfünfhundert Kilometer Straßenpflaster nicht einmal die Hälfte dessen darstellte, was sie sehen konnte.
Die Europäer vermehrten sich wie die Karnickel. Der einzige Grund, warum sie a Muralha bisher nicht überwältigt hatten, war die Entfernung. Irgendwann würden die Wellen dieser menschlichen Flut an den Fuß der Mauer schlagen und sich dann immer höher türmen. Praia Nova, Ophir und jedes einzelne Dorf, jeder Stamm und jedes unterirdisch lebende Monster zwischen dem Atlantik und der Messingschiene in der eiskalten Luft wäre dann in Gefahr.
Dieser Gedanke deprimierte sie sehr.
In dieser Nacht schlugen sie einen nördlichen Kurs ein, was Paolina trotz ihrer beschränkten Kenntnisse europäischer Geografie merkwürdig vorkam. Ihrer Einschätzung nach hätten sie leicht nach Osten fahren müssen.
Sie blieb auch weiterhin für sich allein, nicht eingesperrt, aber ausgegrenzt. Wenn sie an Deck umherging, wussten die Männer sich woanders zu beschäftigen. Die einzige Ausnahme war das Poopdeck, auf dem sich die Offiziere befanden. Sobald sie sich ihm näherte, tauchte ein großer Matrose auf und stellte sich ihr in den Weg. Er warf dann einen Blick in die Luft oder achtern, aber er sah ihr niemals in die Augen.
Sie landete am Ende am Bug und betrachtete Wolken, die vom Sternenlicht erhellt wurden. Paolina sprach weder mit Kapitän Sayeed noch Bucknell oder sonst jemandem auf dem verfluchten Schiff. Sie waren allesamt Männer, und ihnen gemeinsam waren die Wahnvorstellungen, alles besitzen zu müssen und unheimlich wichtig zu sein.
Im Lauf der Nacht ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass es doch einfacher gewesen wäre, sich mit dem Leben in Praia Nova zu arrangieren. Die fidalgos hatte sie wenigstens verstanden. Diese Engländer waren ihr noch fremder als die Enkidus oder die Messingmenschen.
Schließlich krochen die ersten Sonnenstrahlen über den östlichen Horizont. Das helle, filigrane Muster der äußeren Planeten verschwand zuerst und mit ihnen das schwächere Leuchten der Sterne. Während sie verblassten, merkte Paolina, dass es sich bei den seltsamen Wolken, die sie im Osten gesehen hatte, in Wirklichkeit um schneebedeckte Gebirgszüge handelte, die sich in die Höhe reckten.
Ein nordöstlicher Kurs hätte die Notus mitten in der Nacht auf dieses Gebirge zusteuern lassen. Obwohl sie fest davon überzeugt war, dass Kapitän Sayeed sein Schiff sogar über a Muralha fliegen würde, wenn er sich dazu gezwungen fühlte, so musste sie ihm doch zugestehen, ein umsichtiger Mann zu sein.
Zumindest in einigen Angelegenheiten.
Die Sonne hatte es noch nicht über die
Weitere Kostenlose Bücher