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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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ihr das Blut in den Adern gefrieren.
    Die Damen machten viel Wirbel um Paolina, als sie sich hinsetzte. Sie stellten sich als Bonnie und Grace Jones vor, Schwestern, die dank eines kleinen Einkommens aus dem Besitz ihres Großvaters durch Europa reisten. Sie fragten sie besorgt, wie es ihr ginge und was sie noch für sie tun könnten.
    Als der Zug nach Marseille abfahrbereit war, brachten die Schwestern Jones sie zum Schaffner und erklärten ihm hinter vorgehaltener Hand, dass sie wegen eines gerade verstorbenen Verwandten in Trauer sei. Schließlich verließ der Zug den Bahnhof und kämpfte sich kilometerlang an düsteren Häusern und engen, schmutzigen Hinterhöfen vorbei, aus denen Lyon zu bestehen schien. Sie war dem Zauber großer Städte verfallen gewesen, aber dieser Zauber war nun gebrochen.
    Als sie am nächsten Tag in Marseille ankam, gab es auch keinen neuen Grund zur Freude. Als sie den Bahnhof verließ, Gare de Marseille-Saint-Charles, trat sie auf einen Platz hinaus, der an diesem Morgen mit hetzenden Franzosen überfüllt war. Sie verstand die Sprache nicht, die Menschen waren desinteressiert, die Stadt überwältigend. Diese Flachlandkönigreiche waren viel seltsamer als die Mauer.
    Paolina machte sich daran, Straßen zu benutzen, die nach unten führten, bis sie das Mittelmeer vor sich entdeckte und zum Hafen fand. Sie versuchte, nicht an Agenten der Britischen Krone zu denken, die sie vielleicht verfolgten. Es gab sie natürlich, aber hätten sie sie bis hierher verfolgt?
    Im Hafenviertel suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen, um sich hinzusetzen, dem bunten Treiben zuzusehen und zu verstehen, warum sich alle um sie herum einer ständigen hektischen Betriebsamkeit unterwarfen. Sie wirbelten umher, rannten, riefen, trugen Lasten, genauso wie sie es direkt vor dem Bahnhof getan hatten. Am Wasser wurden mehr Sprachen gesprochen, denn zwischen den Anzug tragenden, englischen Bürokraten und den französischen Laufburschen in ihren grauen Hosen ließen sich die Matrosen und die Damen zweifelhaften Rufs treiben.
    Nach einem Blick auf ihre Karten war sie zu dem Schluss gekommen, nach Suez und von dort aus zur Hafenstadt Mogadischu zu reisen, die in der Nähe der Mauer lag. Der Hafen wirkte sehr kompliziert und verwirrend auf sie. Sie konnte schließlich kaum auf den einzelnen Kais umherwandern und an den Laufstegen nachfragen, welches Schiff wohin fuhr. Paolina widerstrebte es sehr, dass irgendjemand sie sehen oder ihren Namen hören könnte, denn dann würden die Briten vielleicht herausfinden, welchen Ort sie als Nächstes aufsuchte – sie musste sich einen Schlepper suchen, der ihr dabei behilflich war, eine Passage zu buchen.
    Letztendlich rief sie einen der Laufburschen herbei. Der Junge hatte dunkle Augen und seine Locken die Farbe abgelagerten Honigs. Er trug eine weiße, mit Rüschen besetzte Hemdbluse, die er mit einem Parfüm übergossen hatte, über das sie die Nase rümpfen musste.
    »Englisch bitte«, stammelte Paolina.
    »Kein Problem.« Sein Grinsen entblößte braun gefleckte Zähne. »Was willst du?«
    Paolina reichte ihm eine Münze im Wert von zehn Centimes. »Ich gebe dir einen Livre, wenn du mir
    drei Schiffe nennst, die nach Suez und zum Indischen Ozean fahren.«
    »Ein Livre für jedes Schiff, okay?«
    »Ein Livre für alle«, sagte sie. Nicht nachgeben, ermahnte sich Paolina, oder dieser Junge wird dich nicht ernst nehmen.
    Er zuckte mit den Achseln, warf ihre Münze hoch und verschwand.
    Sie wartete einige Stunden auf einer Regentonne, aber der Junge mit dem honigfarbenen Haar kehrte nicht zurück. Enttäuscht ging Paolina zu einem der fliegenden Händler, um sich Fleisch zu kaufen, und kehrte an ihren Platz zurück. Sollte sie es mit einem anderen Burschen versuchen oder einfach losgehen und auf ihr Glück vertrauen?
    Diese Entscheidung fiel ihr schwer. Wenn sie sich einfach in die Richtung auf den Weg machen könnte, dann würde sie sich das ja überlegen. Aber die Züge waren hier keine große Hilfe – am Kartenschalter in Mulhouse konnte man ihr nur Fahrscheine nach Dubrovnik ausstellen, als sie nachfragte, ob man Europa mit dem Zug durchqueren könnte. Sie konnte sich zwar durchaus vorstellen, ein Viertel der Gesamtstrecke um die Welt an der Mauer zurückzulegen, aber Paolina war aller Wahrscheinlichkeit nicht dazu in der Lage, zu Fuß von Frankreich an den Äquator zu marschieren. Nicht, wenn sich sowohl das Britische Empire als auch die Sahara auf diesem Weg befanden.
    Es

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