Die Räder des Lebens
half ein Schaffner Paolina dabei, ihr richtiges Abteil zu finden. Es war seltsam, den schmalen Flur aus lackiertem Holz auf abgetretenem Teppich entlangzugehen, der ihr aus ihrer Zeit auf der Notus noch vertraut sein sollte, aber genauso fremd war, wie alles, was sie in der englischen Welt kennengelernt hatte.
Ihr Platz auf einer Sitzbank schonte ihre Füße. Neben ihr führten zwei dunkelhäutige Männer ein ernsthaftes Gespräch in einer Sprache, die sie noch nie gehört hatte. Die französische Landschaft zog an ihnen vorbei. Es war kühl im Waggon. Sie fragte sich, ob sie schnell genug nach Süden gelangen konnte, ohne sich einen warmen Mantel kaufen zu müssen.
Paolina besaß nun nichts mehr, außer Geld und Karten. Sie würden noch einige andere Dinge benötigen. Egal, welchen Zug sie nach Mulhouse nahm, es würde ihr sicherlich genügend Zeit bleiben, noch einkaufen zu gehen.
Und damit verbrachte sie den Tag. Mulhouse war nicht so groß wie Straßburg. Wäre Paolina im Rahmen eines normalen Auftrags unterwegs gewesen, dann hätte sie sicherlich den Zug nach Marseille besteigen können, von wo aus sie einst aufgebrochen war. Eisenbahnlinien überzogen den gesamten Kontinent, eiserne Bäche, die in Flüsse und Ströme aus eisernen Schienen mündeten und das gesamte Europa unter den wachsamen Augen britischer Gouverneure und Steuereintreiber und Bahnhofsvorsteher zu einem eng gesponnenen Netz verbanden.
Sie hatte Zeit für ihre Einkäufe. Sie dachte an das, was Lachance ihr vorgeschlagen hatte – sich Kleidung zu kaufen, die zu einem Jungen passen würde. Sie könnte so tun, als ob sie für ihren Bruder einkaufen ginge. Aber einen Mann zu spielen …
Männer waren hinterlistig, brutal und unbedacht. Was, wenn ihr das gefiel?
Stattdessen kaufte sich Paolina ein vernünftiges Kleid aus Musselin und Samt, mit einer hübschen Cutaway-Jacke über dem Mieder, das aber dennoch recht praktisch war. Sie konnte niemanden finden, der ihr die schweren Arbeitsschuhe verkaufte, die sie so gerne getragen hätte, und musste sich daher für typische Frauenschuhe entscheiden. Allerdings bestand sie auf niedrigen Absätzen, jeder Modeberatung zum Trotz.
Danach besorgte sie sich noch eine Lederumhängetasche – ›das passt nicht zu einer Dame, Mademoiselle‹ -, in der sie Gemüse, Brot und drei kräftige Würstchen mitnehmen konnte. Sie war bereit für die weitere Zugreise.
Als Paolina in dieser Nacht in Lyon umstieg, um nach Marseille zu fahren, standen Jungen auf dem Bahnsteig, die etwas über Straßburg schrien, sowohl auf Französisch als auch auf Englisch. Sie bezahlte drei Centimes für ein beachtliches Bündel bedruckten Papiers, das aber leider die falsche Sprachversion enthielt. Die Schlagzeile war dennoch deutlich genug zu verstehen.
C ATHÉDRALE DE S TRASBOURG D ÉTRUITE !
Paolina überflog den Text und entdeckte Hinweise auf die Schwilgué-Uhr und Dutzende Wörter, die ihr vertraut oder halbwegs vertraut vorkamen: ville, prêtre, restaurant. Sie lief auf dem Bahnsteig umher, bis sie zwei Damen fand, die Englisch miteinander sprachen. Blass, dunkle Haare, Sommersprossen, vermutlich Schwestern. Sie trugen in etwa das, was auch Paolina trug – sie gehörten nicht zu den oberen Zehntausend, waren aber auch keine einfachen Arbeiterinnen.
Wie die fidalgos, dachte Paolina. Ich denke genauso wie die fidalgos. Der Gedanke ließ sie innerlich vor Wut und Ekel zittern.
»Entschuldigen Sie bitte.« Die beiden Frauen lächelten sie erstaunt an. »Ich spreche kein Französisch. Könnten Sie mir freundlicherweise übersetzen, worum es in diesem Text geht?«
Eine der Frauen warf einen Blick auf ihre Zeitung. »Man redet überall darüber«, sagte sie nicht unfreundlich. »Es gab an diesem Nachmittag eine fürchterliche Explosion im Straßburger Münster. Die Zeitungen berichten, dass es sich um Sabotage durch irreguläre chinesische Truppen handelte. Daraufhin ist ein riesiger Brand in der Stadt ausgebrochen.«
»Oh …« Paolina wurde schlecht.
»Haben Sie dort Verwandte?«, fragte die andere Frau. »Hier, lassen Sie mich Ihnen auf diese Bank helfen.«
»Mein, mein … Cousin«, stammelte sie. Der Bischof war tot, der Priester, all diese Männer. Sie hatten in ihrer Unbedachtsamkeit etwas wirklich Dummes mit dem Schimmer angestellt. Lachance war auch tot, wenn er zum Kirchplatz zurückgekehrt war, um danach zu suchen – weil sie ihn darum gebeten hatte.
Hätte es noch schlimmer kommen können? Der Gedanke ließ
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