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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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bewegt hatte.
    »Ich gehe davon aus, dass Herr Professor Doktor Ottweill sich uns gleich anschließen wird.«
    Sie standen mitten im Steinbruch auf einer steingepflasterten Straße zwischen Hütten mit Teerdächern und wurden von der viel zu heißen Sonne gebraten. Al-Wazir stellte sich ernsthaft die Frage, ob er vielleicht an Bord der kleinen Dau hätte bleiben und nach Afrika zurücksegeln sollen, um sein Leben bei den Krausköppen zu bestreiten.
    Aber er hatte sich zum Militär anwerben lassen. Ihre Kaiserliche Majestät hatte ihn all die Jahre in der Luft gehalten. Wenn sie ihn unter das Gestein der Mauer schicken wollte, dann hatte ihm das gleich zu sein.
    Childress
    Bibliothekarin Childress stach auf dem Dampfschiff Mute Swan vom Hafen in New Haven in See, in der Nacht des siebzehnten September 1902, an einem Mittwoch. Sie machte sich eine mentale Notiz in ihrer Ars memoriae, als ob ihre Abkehr von allem, was sie jemals gekannt hatte, nur eine Fußnote in einem historischen Abriss vergangener Ereignisse wäre.
    Dinge, die zu katalogisieren, aufzuschreiben und zu erfassen waren, hinterließen nicht dasselbe Gefühl der Schärfe wie die Emotionen, die ein Mensch durchlebte. Das hatte sie schon immer gewusst. Das bedeutete es ihr, Bibliothekarin zu sein, und so war es auch für viele andere. Nur die wenigsten Menschen würden sich für ein Leben zwischen ruhigen Büchern und staubigen Regalen entscheiden, außer sie verabscheuten es, sich in der Gesellschaft anderer Menschen zu bewegen.
    Das Schiff pflügte gemächlich durch die sanfte Dünung des Long Island Sound. Sie blickte durch das kleine, verriegelte Bullauge hinaus. Childress hätte durchaus eine Münze ins Meer werfen können, wenn sie sich an dessen Schloss versucht hätte. Immerhin konnte sie hinausblicken, und das nutzte sie auch.
    Der Vollmond tauchte den Long Island Sound in ein silbernes Licht. Die Küste zeichnete sich blauschwarz vor der Finsternis ab. Bewaldete Landzungen verliehen den Schatten noch dunklere Strukturen. Städte und Hafenviertel flackerten hell vor ihrem Auge auf. Ihr ganzes Leben hatte sie in Connecticut gewohnt und war nie weiter gereist als bis nach New York City oder Providence. Nun brachten sie die avebianco fort, vermutlich für den Rest ihres Lebens.
    Immerhin würde sie mehr von der Welt sehen.
    Später, als sich Childress in derselben Kleidung zum Schlafen gelegt hatte, die sie schon den ganzen Tag trug, glitt der Riegel an der Außenseite ihrer Kabinentür zur Seite. Die muskulöse Frau sah nach ihr. Sie trug auch diesmal grobe, aber durchaus praktische, reisetaugliche und zugleich weiblich geschnittene Kleidung. Childress ließ sich von ihrem Kleid aber nicht täuschen.
    »Brauchen Sie etwas?«
    »Eine vernünftige Unterhaltung, etwas Vernünftiges anzuziehen und meine Freiheit.«
    »Die Maske Poinsard wird morgen mit Ihnen über diese Dinge sprechen.«
    »Und heute Abend …?«
    »Schlafen Sie«, sagte die muskulöse Frau. »Sie werden sich danach wieder besser fühlen.«
    »Und in der Zwischenzeit dampfen wir auf den Atlantik hinaus.« Sie hatte nicht mehr sagen wollen, aber sie tat es dennoch. »Und lassen mein Zuhause zurück.«
    »Ihr Zuhause sind die avebianco .« Die muskulöse Frau nickte knapp. »Mein Name ist Anneke. Ich sehe Sie morgen früh.«
    Die Tür wurde zugezogen und der Riegel mit einem Klicken vorgeschoben.
    Childress beruhigte sich, fand aber keinen Schlaf. Stattdessen betrat sie ihren Gedächtnispalast und ließ sich durch den Kopf gehen, welche Schritte sie hierhergeführt hatten. Irgendwo, in den Räumen ihres Gedächtnisses, übermannte sie der Schlaf.
    Der Morgen führte ihr eine Küste vor Augen, die sie nicht identifizieren konnte – weitere bewaldete Landzungen, einige Flussauen, alte Anlegestellen, von denen nur noch die verrottenden Pfeiler übrig waren, deren sommerlicher Bewuchs dem Tode geweiht war. Der Logik zufolge musste es sich um die Küste von Massachusetts handeln, aber sie hatte bisher die Schiffsgeschwindigkeit noch nicht bestimmen können. Dennoch merkte sie sich pflichtbewusst die Anordnung der vorgelagerten Hügellandschaft, sollte sie aus irgendeinem seltsamen Grund erneut auf einem Schiff an dieser Stelle vorbeikommen.
    Trotz Annekes Versprechen verging nicht nur die Morgendämmerung ereignislos, sondern auch die nächsten Stunden. Weder Frühstück noch das Treffen mit der Maske Poinsard kamen zustande. Und das war der Haken an der ganzen Sache.
    Die weißen Vögel, die

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