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Die Räder des Lebens

Die Räder des Lebens

Titel: Die Räder des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Lake
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Flucht hätte bewerkstelligen können, indem sie ihrer Entführerin den kochend heißen Tee ins Gesicht kippte und dann losrannte – aber wohin? Zum Heck eines Schiffs, das sie nicht kannte und das an einer ihr unbekannten Küste entlangdampfte?
    Stattdessen nahm sie den Becher und trank vorsichtig einen Schluck. Es war ein kräftiger schwarzer Tee, wie ihn die Kulis in den Restaurants in East Haven bevorzugten, wo eine einzelne Frau unbelästigt die exotischen Gerichte des indischen Subkontinents genießen durfte. Aber immerhin war es ein ordentliches, warmes Getränk, und sie konnte den kräftigen Aufguss schmecken, der ihr Blut schneller durch die Adern fließen ließ. Childress stützte sich an der Tür ab und leerte den Becher so schnell, wie es die Wärme des Getränks zuließ. Sie steckte sich eine Brotscheibe in die Tasche, während sie Anneke den Becher zurückgab, und aß die andere sofort.
    Childress fühlte sich wie ein Betteljunge, der wegen Schulschwänzerei bestraft werden soll. Das war dumm. Sie war eine willensstarke, gebildete Frau mit einem scharfen Intellekt. Nur eine Nacht eingesperrt gewesen zu sein, auch wenn es dreckig war und es wenig zu Essen gab, würde sie nicht entmutigen.
    Sie schenkte Anneke ein strahlendes Lächeln und funkelte sie an – ein Blick, mit dem sie in ihren sechsunddreißig Jahren an der Theologischen Fakultät nicht einen einzigen Studenten bedacht hatte.
    »Es passt mir jetzt, Maske Poinsard meine Aufwartung zu machen.«
    Anneke schnaubte, führte sie aber den Flur entlang. Den leeren Steingutbecher hielt sie wie einen Knüppel in der Hand, sollte eine Waffe plötzlich vonnöten sein.
    Die Maske Poinsard wartete in einer der Bugkabinen auf dem Oberdeck. Für eine Schiffskabine war sie sehr geräumig, acht- oder zehnmal so groß wie Childress’ winziges Gefängnis, und verfügte über große Fenster mit einem wundervollen Blick auf das Meer. Stühle, die auch in einem Fakultätsclub hätten stehen können, waren auf dem Boden verschraubt, und das Deck unter einem kastanienbraunen Teppich verschwunden.
    Sie wirkte wie ein Salon, ein Ort, an dem sich Gentlemen bei einer Zigarre und einem Glas Portwein über die Geschäfte, Pferde und Frauen austauschten. In diesem Fall enthielt er nur eine unauffällig aussehende Frau. Ihre dunklen Haare wiesen erste graue Strähnen auf, und ihre braunen Augen und das ovale Gesicht wären aus keiner englischen Menge herausgestochen. Wo Annekes Kleidung der von gestern Nacht sehr ähnelte und eine Art weiblichen Kompromiss mit den notwendigen Arbeiten an Bord eines Schiffs einging, trug die Maske Poinsard eine elegante lavendelfarbene Jacke mit einem dazu passenden, fließend fallenden Rock, einem weißen Rüschenhemd und einer kleinen schwarzen Schleife. Der passende Hut befand sich auf einem Ständer neben ihrem Stuhl. Auf einem Schiff war derartige Kleidung äußerst unpraktisch. Die Maske Poinsard traf damit eine Aussage. Childress fragte sich, an wen diese Aussage gerichtet war.
    Sie hatte auch irgendwie angenommen, Maske Poinsard wäre ein Mann.
    »Darf ich mich vorstellen? Bibliothekarin Childress.« Sie ließ ihre Unsicherheit hinter sich. »Bis vor Kurzem habe ich in der Day Missions-Bibliothek der Berkeley Theologie-Fakultät gearbeitet. Mein Leben habe ich in New Haven, Connecticut, verbracht.«
    »Sie dürfen mich mit Maske Poinsard anreden. Mein richtiger Name ist für ihre Zwecke nicht von Belang.« Während Anneke mit einem deutlich kontinentaleuropäischen Akzent sprach, handelte es sich bei Maske Poinsard um die britische Standardaussprache; Englisch, wie es am Hof, vor Gericht und bei allem, was der Elite nahestand, gesprochen wurde.
    Bei genauerer Betrachtung war ihre Kleidung äußerst gut geschnitten, mit fein gesetzten Stichen, deren Anzahl Childress mit bloßem Auge nicht schätzen konnte. Diese Frau war sehr wohlhabend, aber ihres Wissens nach kontrollierte sie auch dieses Schiff. Vermutlich befand es sich sogar in ihrem Besitz.
    »Maske Poinsard«, sagte Childress ruhig. »Ich stehe Ihnen zu Diensten.«
    »Tatsächlich.« Poinsard machte es sich in ihrem Stuhl ein wenig gemütlicher.
    Sie fühlt sich unbehaglich, dachte Childress. Es gab da etwas, was diese Frau lieber nicht ansprechen wollte. Die vielen Jahre an der Fakultät mit ihren nicht enden wollenden Ausschusssitzungen hatten ihr die Bedeutung längeren Schweigens nähergebracht. Diese Erkenntnis hielt sie sich immer vor Augen.
    Schließlich füllte die

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