Die Räder des Lebens
avebianco , als eine locker strukturierte Organisation zu bezeichnen, hatte etwas von Untertreibung. Sie hatten ihre Zeichen und Symbole, aber es waren weder Zellen vorgesehen, noch Anführer ernannt, noch Revolutionäre ausgebildet worden. Nicht wie es bei der Baumfällerrebellion unter Lincoln und Lee der Fall gewesen war. Die beiden Bauern, die sich zu Generälen aufgeschwungen hatten, hatten es geschafft, große Teile Virginias, Marylands und Pennsylvanias unter ihre Kontrolle zu bringen, bis General Arbuthnot sie mit Hilfe der Sikh-Divisionen niederwarf.
Im Gegensatz zu den armen, todgeweihten Rebellen hatten die weißen Vögel nie nach offenkundiger politischer oder wirtschaftlicher Macht gestrebt. Einfluss war ihr Ziel. Wie etwa durch die Verbreitung und den Wirkungsbereich von Bibliotheken.
Aber sie hatten Masken – ältere Mitglieder der avebianco , die innerhalb der Gemeinschaft ausgewählt wurden, um öffentlichere Funktionen zu übernehmen. Immer dann, wenn direkte Einflussnahme notwendig wurde, waren die Masken das, was man bei den weißen Vögeln als Anführer ansehen konnte.
Childress war nicht naiv genug, um zu glauben, dass man es dabei bewenden ließ. Sicherlich sahen die Masken zu anderen Masken auf, die über Rang und Titel verfügten, die sie nicht einmal zu Gesicht bekam. Menschen konnten sich einfach nicht anders verhalten. Jeder Stamm hatte einen Häuptling, jede Bande ihren Boss, jedes noch so kleine Rudel seinen Anführer.
Das Entriegeln der Tür schreckte Childress aus ihrer Träumerei auf. Draußen hatte sich die Küste zu Dünen und Sandbänken verändert. Auf dem Hügel oberhalb der Sturmflutlinie waren zahlreiche Häuser zu erkennen. Waren sie vielleicht in der Nähe von Boston?
Sie wandte sich Anneke zu.
»Maske Poinsard wird sie jetzt empfangen.«
»Nein.« Childress sollte sich wenigstens bei den wenigen Dingen durchsetzen, auf die sie noch Einfluss hatte. »Ich brauche ein Bad, saubere Kleidung und etwas Vernünftiges zu essen, bevor ich mich einem führenden Mitglied unserer Gemeinschaft vorstellen kann.«
Anneke lachte prustend. »Ich sehe schon, dass Sie noch nicht häufig auf einem Schiff gewesen sind.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kann Sie zu einem Waschraum mit Klosett bringen. Tun Sie, was sie nicht lassen könnten, aber beeilen Sie sich.«
»Und was ist mit Frühstück?«
»Tee und Kekse, wenn Sie Glück haben.«
Annekes Geduld kannte also ihre Grenzen. Childress überraschte das nicht. Immerhin hatte sie eine kleine Schlacht für sich entscheiden können, auch wenn es nur eine Frage der Schicklichkeit gewesen war. Sie machte sich keine falschen Vorstellungen von ihrer Macht – ein Leben als Frau und Bibliothekarin hatte dafür gesorgt –, aber sie konnte zumindest zum Ausdruck bringen, dass sie sich selbst wertschätzte.
Der Waschraum war fürchterlich eng und stank nach Rost und den Gerüchen, die übliche Verwendung des Raumes hinterließ. Das Wasser, das aus einem kleinen Rohr über ihr heruntertropfte, war eiskalt. Childress dachte nicht einmal daran, sich die Haare zu waschen. Sie zog sich allerdings bis auf ihr Unterhemd aus, um sich Gesicht und Hände waschen und ihre Haut an den Stellen betupfen zu können, wo Angst und Stress ihre Spuren hinterlassen hatten. Sie verdrängte entschlossen das Gefühl der Demütigung, sich auf diese Weise reinigen zu müssen – wie eine Gefangene in einer Zelle.
Sie war keine Gefangene. Sie war ein weißer Vogel, sie war unterwegs und folgte Anweisungen, denen sie schon vor Jahrzehnten zugestimmt hatte. Das hier war keine Verurteilung. Sie wurde nicht bestraft.
Childress glaubte das natürlich nicht. Aber sie redete es sich ein, um sich besser zu fühlen. Nicht, dass es funktionierte, aber sie zwang sich dennoch dazu, es zu denken. An etwas zu denken war der erste Schritt, um es zu erschaffen.
Anneke schlug allzu bald auf die Tür ein. »Sie sind schon zu spät«, rief sie, ihre Stimme wurde durch das Metall gedämpft.
Childress knöpfte eilig Unterrock und Kleid zu und achtete darauf, dass der hohe Kragen richtig saß. Sie fühlte sich schäbig, verbraucht und zerknittert, aber es war das Beste, was sie im Moment zur Verfügung hatte. Sie öffnete die Tür.
Anneke hielt einen Becher Tee und zwei ordentliche Scheiben grobes Graubrot in der Hand. Childress dachte darüber nach, dass, wenn sie in ihrem Leben je die verworrenen Gedankengänge der Menschen besser verstanden hätte, sie in diesem Augenblick ihre
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