Die Räder des Lebens
Sitte und Anstand. Als Poinsard versucht hatte zu sprechen, hatte sie zugleich eingestanden, dass Childress mit ihrer Haltung ihre gesamte Argumentation ad absurdum führte.
Die unverblümte Wahrheit ist nie willkommen.
Sie trat auf den Korridor hinaus und ging an Deck. Sie hatte kein Interesse daran, sich ins Wasser zu stürzen oder sich eines anderen symbolischen Akts zu bedienen, um ihrem romantischen Scheitern Ausdruck zu verleihen. Sie wollte einfach nur an der frischen Luft sein, sich den Wind ums Gesicht wehen lassen und sich über ihre Zukunft Gedanken machen, ohne sich die Dummheiten von Maske Poinsard anhören zu müssen.
Wenige Augenblicke später trat Anneke an Childress’ Seite. Ihre kräftige, starke Hand berührte ihre zitternde für einen Augenblick. Dann drückte Anneke ihr eine warme Pastete in die Hand. »Es tut mir leid.«
»Ich nehme an, Sie sollten das wohl nicht hören. Die Maske hatte sich das sicherlich ganz anders vorgestellt.«
»Nun … ja …« Annekes Hand strich erneut über Childress’ Unterarm, diesmal aber entschiedener. »Ich werde deine Tür nicht mehr verriegeln.«
»Danke«, sagte Childress geistesabwesend. Sie merkte, dass sie an der Steuerbordreling stand und auf den Atlantik hinaussah, nicht in Richtung Nordamerika. Nicht, dass das noch von Bedeutung wäre. Es gab kein Zurück, weder theoretisch noch praktisch. Und sie hatte jedes Wort gemeint, wie sie es gesagt hatte, von ihrer Loyalität bis hin zum Ideal der weißen Vögel.
Ein kleiner moralischer Sieg war kein großer Trost, aber er war definitiv besser als bedingungslose Kapitulation. Sie lächelte in den Wind, lauschte Annekes langsamen Schritten und fragte sich, wie lange sie wohl noch leben würde, wenn Maske Poinsard sie erst in die wartenden Hände des Schweigsamen Ordens übergeben hatte.
Drei
Paolina
A Muralha war ein Monstrum, das merkte Paolina schnell. Ein großes Steinungeheuer, höher als der Himmel, das eine Pranke stets erhoben hatte, um jeden niederzustrecken, der es wagte, auf seiner Oberfläche dahinzukriechen.
Dennoch war es schön. Sie blieb auf Wegen, die Hunderte Meter über Meeresniveau verliefen, um sich nicht durch die zerfallenden Oberflächen in Meeresnähe kämpfen zu müssen. In diesem Bereich wies a Muralha noch dieselben stufenförmigen Sockel auf, auf denen sich auch Praia Nova im Westen befand. Welche geologischen Hintergründe oder göttlichen Pläne auch zu diesem Teil der Mauer geführt haben mochten, sie folgten in jedem Fall einem einheitlichen Entwurf.
Das Meer lag immer zu ihrer Linken, weit unter ihr, und bei gutem Wetter praktisch immer zu sehen. Bei Nacht hörte sie das sanfte Rauschen, das sie auch zu Hause immer begleitet hatte, ein mehrsilbiges Wiegenlied aus Welle und Wasser, das sie auch jetzt beruhigte.
Zu ihrer Rechten erhob sich die gigantische Mauer. Sie stieg stetig an und wölbte sich über ihr zu einem weit entfernten Horizont, der sich praktisch genau über ihrem Kopf befand und den sie nicht mehr klar sehen konnte. Auf den Felsvorsprüngen über ihr befanden sich ganze Länder – das verlangte nicht nur die Logik, sondern wurde auch durch das gelegentliche Aufblitzen von Metall oder dem Anblick dünner Rauchschwaden oder von Menschenhand bearbeitetem Mauerwerk, das von weit über ihr hinabstürzte und auf ihrer Höhe zerschellte, bewiesen.
Wolken waren da oben auch. Sie erkannte viele Wolkenfelder, die wie übereinandergestapelte Kränze wirkten und sich nahe der Oberfläche von a Muralha befanden, sie aber nie ganz verdeckten. Manchmal lösten sie sich voneinander und gaben den Blick frei auf weitere Steinfelder und die Luft über ihr. Während der Nacht sah sie Blitze quer über die Oberfläche ziehen und hörte in weiter Ferne Donner grollen. Die Stürme waren so weit entfernt, dass sie zwar stundenlang Regen über ihr ausschütteten, aber kein einziger Tropfen sie hier unten erreichte.
Sie hatte ihr ganzes Leben lang mit der unvorstellbaren Größe dieses Dings gelebt, aber in Praia Nova war sie immer im Hintergrund geblieben. Hier draußen füllte a Muralha den ganzen Himmel aus und überblickte das Meer wie eine Panzerkatze, die vor einem Kaninchenbau lauerte.
Das Wetter auf ihrem Weg bereitete ihr Sorgen, denn der Sturm, der in der Nacht losgebrochen war, als sie Praia Nova verließ, war nur der Vorbote zahlreicher Regentage gewesen. Am Tag war es heiß, nachts war es kühl, der Wind blies unaufhörlich, und sie war die meiste Zeit
Weitere Kostenlose Bücher